Die Krise des ÖPNV könnte uns erst noch bevorstehen

Seit einigen Wochen herrscht in Deutschland Ausnahmezustand – das gilt auch und in besonderer Weise für die Bus- und Bahnunternehmen. Möglichst schnell neue Fahrzeuge bestellen. Neues Personal einstellen. Den Ausbau von Straßenbahnstrecken mit Bürger*innen und Stadträten diskutieren. Das sind nur wenige Beispiele für die großen Herausforderungen, vor denen die meisten Verkehrsbetriebe zuletzt standen.

| ÖPNV

Der ÖPNV ist seit Jahren auf Wachstumskurs. Mit 11,6 Milliarden Fahrten in Bus und Bahn wurde 2019 in Deutschland wieder ein neuer Spitzenwert erzielt. Doch mit der Rekordserie ist 2020 vorerst Schluss. Seit dem Beginn der Kontakteinschränkungen sind die Fahrgastzahlen um rund 80 Prozent eingebrochen. 

Ebenso wie Großraumbüros, Warteschlangen oder Gaststätten sind die Öffis ein Ort, an dem wir anderen Menschen begegnen. Auch hier sind die geltenden Abstandsregeln einzuhalten, was nur mit weniger Fahrgästen pro Bus oder Bahn funktionieren kann. Eigenwirtschaftlich arbeitende Unternehmen, wie es sie besonders im Fernverkehr mit Bussen und Zügen gibt, sind von einem Tag auf den anderen mit von Insolvenz bedroht. Mit jeder Woche der Ausgangbeschränkungen wird ihre Lage dramatischer. Ohne Staatshilfen werden einige Verkehrsunternehmen die nächsten Wochen nicht überstehen. 

Aber auch für die zahlreichen Verkehrsangebote im Auftrag der Länder und Kommunen, die dafür feste Vergütungen zahlen, ist die Situation bedrohlich. Je nach Region stammen die Hälfte bis drei Viertel der Einnahmen aus den Ticketkäufen der Fahrgäste. Die Einkünfte aus Abonnements federn die Einbußen ab, doch bereits nach einer Woche Lockdown war eine erhöhte Anzahl an Kündigungen zu verzeichnen. Wie lange werden die meisten Fahrgäste ihren Öffis die Treue halten? Zwar wissen die Kommunen meist sehr gut, was sie an ihren Verkehrsunternehmen haben und sind bereit, sie zu unterstützen. Doch viele Kommunen kommen schnell an ihre finanzielle Belastungsgrenze. So haben beispielsweise einige Kreise aus Brandenburg bereits verlautet, das ihnen sehr bald schlicht das Geld fehle, um einen Weiterbetrieb zu finanzieren. 

Verkehrsunternehmen reagierten schnell  

Kurzfristig ist eine umfangreiche staatliche Unterstützung unvermeidbar. Alles andere würde unser Verkehrssystem nachhaltig schädigen. Mehr Unterstützung von der Gemeinschaft haben die Verkehrsunternehmen derzeit ohnehin verdient. Denn jedem unternehmerischen Kalkül zum Trotz befördern sie gerade deutlich weniger Fahrgäste mit einem dafür vergleichsweise umfangreichen Angebot. Zwar wurden zu Beginn des Lockdowns einzelne Angebote beispielsweise bei der S-Bahn Rhein-Ruhr stark gekürzt. Nach Protesten von Fahrgästen und vom VCD, fahren jedoch wieder mehr Busse und Bahnen. Den Menschen, die nach wie vor auf den ÖPNV angewiesen sind, steht so in den Fahrzeugen deutlich mehr Platz zur Verfügung. Der Chef der Münchner Verkehrsgesellschaft etwa gab das Ziel aus, dass in einer U-Bahn, die sonst bis zu 800 Personen fasst, derzeit nur 120 Fahrgäste befördert werden sollen.

All die Menschen, deren Systemrelevanz uns vielleicht erst in den letzten Wochen bewusst geworden ist, kommen dank der Anpassungsfähigkeit des ÖPNV weiterhin zuverlässig mit Bus und Bahn zur Arbeit. Überhaupt hat sich die Branche, die sonst vielen als träge gilt, bemerkenswert schnell auf die veränderten Umstände eingestellt. Busfahrer*innen wurden vor dem Kontakt mit den Fahrgästen geschützt, Fahrten kurzerhand auf Samstagfahrplan umgestellt, die Reinigung von Haltestangen verstärkt und die Technik nachgerüstet, sodass Türen nun stehts automatisch öffnen. 

Ende des Lockdowns könnte zweite Krise für den Nahverkehr bedeuten 

Sofern den Regierungen in Ländern, Städten und Kommunen bewusst ist, was sie an ihrem ÖPNV haben, werden sich auch Wege finden, die finanziellen Schwierigkeiten zu meistern. Ein kommunaler ÖPNV-Beitrag könnte in den nächsten Jahren für finanzielle Entlastung sogen. Der VCD fordert ihn ohnehin seit Jahren, da nicht nur Fahrgäste, sondern alle Einwohner*innen einer Stadt und auch die ortsansässigen Unternehmen von einem leistungsstarken Nahverkehr profitieren. Alle Überlegungen zur möglichen Finanzierung sind jedoch hinfällig, wenn das wichtigste Kapital der Verkehrsunternehmen fehlt: Das Vertrauen der Fahrgäste in den ÖPNV.  

Tatsächlich sollten derzeit alle, die nicht auf die Öffentlichen angewiesen sind, sie zum Schutze der Gesundheit meiden. Sobald die Pandemie aber überstanden ist, gilt das nicht mehr. Dann ist Bus- und Bahnfahren wieder die sicherste Art, sich im Verkehr zu bewegen und eine klimaschonende noch dazu. Doch die Gefahr besteht, dass sich die Furcht vor einer Ansteckung in diesen Wochen tief in die Köpfe der Fahrgäste eingräbt. Ein Szenario der Beratungsfirma Civity kommt zu der Einschätzung, dass es mindestens das gesamte Jahr 2021 brauche, um das Vorkrisenniveau zu erreichen, möglichweise auch bis 2023. Bei einem sehr ungünstigen Verlauf kann es zu einem dauerhaften Verlust von Fahrgästen kommen, die sich auf andere Verkehrsmittel umorientieren. Die Studienautoren schätzen den zusätzlichen Verlust, der bei den Verkehrsunternehmen bis 2023 anfallen könnte, auf mindestens 5 Milliarden Euro. Im ungünstigsten Szenario sind sogar 10 Milliarden Euro möglich. Die eigentliche Krise stünde dem öffentlichen Verkehr dann erst noch bevor.

Mehr Hygiene und grünes Konjunkturprogramm sichern die Zukunft des ÖPNV 

Letztlich lässt sich das Verhalten der Fahrgäste in einer so einmaligen Situation kaum vorhersagen. Die Risiken sind jedoch enorm, daher sollten alle potenziell vertrauensbildenden Maßnahmen ergriffen werden. Das bedeutet vor allem mehr Hygiene und Desinfektion im gesamten System. Vom Spender für Desinfektionsmittel am Bahnhof bis zum häufigeren Reinigen der Griffe und Taster. 

Die Verkehrsbetriebe sind gut beraten, ab sofort mit sichtbaren Hygienemaßnahmen einem breiten Vertrauensverlust aktiv gegenzuarbeiten. An Gesichtsmasken werden wir uns bis auf Weiteres gewöhnen müssen. In der aktuellen Situation sind sie durchaus sinnvoll, um die Verbreitung des Virus einzudämmen. Die Bundesregierung sprach unlängst eine dringende Empfehlung zum Tragen eines Mund-Nasen-Schutz aus und mehre Bundesländer haben mittlerweile eine Pflicht erlassen.  

Auch nach Ende der Ausgangsbeschränkungen sollten es Verkehrsunternehmen so gut wie möglich vermeiden, mit vollen Fahrzeugen zu fahren und stattdessen den Fahrgästen auch in den kommenden Monaten mehr Abstand ermöglichen. Das verlangt den Betrieben und Aufgabenträgern des ÖPNV zweifelsohne viel ab, weshalb sie mit dieser Aufgabe auch nicht vom Bund alleine gelassen werden dürfen. Während des Lockdowns waren die meisten Fahrgäste schlicht kaum unterwegs. Wenn jedoch der Alltag allmählig wieder das gewohnte Tempo aufnimmt, werden viele Fahrgäste mit einem kritischen Blick in Bahnen und Bussen steigen. Wer sich dann in vollen oder unsauber anmutenden Fahrzeugen unwohl fühlt, sucht nach Alternativen und findet sie möglicherweise im Auto. Für die Verkehrswende wäre das ein herber Rückschlag. 

Bei einem Verkehrsverlagerung von den öffentlichen Verkehrsmitteln hin zum Auto, würden die Klimaschutzziele unhaltbar. Selbst eine Straßenbahn, in der nur halb so viele Fahrgäste wie üblich sitzen, hat pro Kopf immer noch eine günstigere CO2-Bilanz als ein durchschnittlich besetzter Pkw.  Auf lange Sicht werden sich die Menschen stets für das Verkehrsmittel entscheiden, mit dem sie persönlich am besten mobil sind. Damit der ÖPNV wieder an seine bisherigen Wachstumsrekorde anknüpfen kann, gilt daher auch weiterhin und jetzt vielleicht umso mehr: Das Schienennetz ausbauen, für bezahlbare Preise sorgen und Takte verdichten. Packen wir diese ohnehin überfälligen Maßnahmen an und schnüren ein grünes Konjunkturpaket. So kann der ÖPNV sogar gestärkt aus der Krise hervor gehen.

Bastian Kettner

Sprecher für Bahn, ÖPNV und Multimodalität.

bastian.kettner@vcd.org
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