Lieferverkehr in der Stadt

Die Päckchen­lawine

Immer mehr Kurierdienste verstopfen die Straßen, weil Waren immer schneller bei der Kundschaft ankommen sollen. Kommunen und Gesetzgeber in Deutschland reagieren darauf extrem langsam.

„Liefertüte.de“ in Gummersbach. Auch Windeln oder ein Schwangerschaftstest seien binnen 50 Minuten da. In den Innenstädten von Berlin, Köln, Gelsenkirchen, Dresden, Hamburg, München oder Rotterdam geht alles noch viel schneller. „Dein Bäuchlein kriegt das, worum es gebeten hat“, säuselt das Unternehmen Gorillas auf seiner Internetseite. Die Kundschaft greift einfach zum Smartphone und klickt beispielsweise ein Kilo Möhren, eine Flasche Multivitaminsaft, Erdbeermarmelade und Yogi-Teebeutel an – und in zugesagt zehn Minuten steht ein gehetzter Fahrrad-Kurier mit dem Gewünschten auf der Matte. Was er aus seinem Rucksack holt, ist manchmal sogar billiger als im Supermarkt; die Lieferung selbst schlägt pauschal mit gerade einmal 1,80 Euro zu Buche. Dass die Arbeitsbedingungen für die Rider unter solchen Umständen ausbeuterisch sein müssen, ist leicht nachzuvollziehen. Und tatsächlich ist Gorillas inzwischen vielen Zeit­genoss*innen vor allem deshalb bekannt, weil Fahrer*innen in Berlin bereits mehrfach wild gestreikt haben. Auch die Nachbarschaft der dezentralen Lager ist vielfach genervt, weil Lieferräder den gesamten Bürgersteig blockieren.

Der Kampf um die größten Kuchenstücke im Marktsegment Lebensmittellieferung ist die neuste Runde in einem Wettbewerb, der seit Jahren auf den Straßen der Städte ausgetragen wird. Rewe, Bringmeister, food.de und Amazon Fresh rangeln seit Ausbruch von Corona um neue Kundschaft. Doch auch bei anderen Konsumgütern gingen die Bestellungen durch die Decke: Über 35 Milliarden Euro Umsatz pro Monat meldete der weltweit größte Online-Händler Amazon Ende 2020.

Schneller und kleinteiliger

Seit Jahren geht der Trend bei Lieferdiensten in eine Richtung: Immer schneller, immer kleinteiliger, immer häufiger. Bereits 2019 bekamen Durchschnittsbewohner*innen in Deutschland 37 Pakete im Jahr – die Pandemie bescherte der Branche dann noch mal ein Plus von knapp 20 Prozent. Fast ein Drittel der Kleidung und Schuhe wird inzwischen online bestellt. Ein großer Teil der Klamotten wandert nach der Anprobe zurück in den Karton und geht retour.

Nachdem es zunächst so schien, als ob der stationäre Handel in den Innenstädten bald der Vergangenheit angehören könnte, haben viele Ladenbetreiber reagiert. Sie nutzen ihre Geschäfte vor allem als Showrooms und bieten der Kundschaft an, die Ware nach Hause zu liefern. Das spart teure Lagerflächen in zentralen Lagen und spricht sowohl Käufer*innen an, die gerne bummeln gehen, als auch solche, die am liebsten per Mausklick bestellen. Die Kauflust ist enorm: Zwischen 2010 und 2019 wuchs der Einzelhandelsumsatz in Deutschland um fast 90 Milliarden auf 537 Milliarden Euro. Gut zehn Prozent davon sind inzwischen Online-Geschäfte.

Gefühlt besteht der Güterverkehr in den Städten zunehmend aus Paket-, Express- und Kurierdiensten. Doch tatsächlich machen sie gegenwärtig nur etwa sechs Prozent des Wirtschaftsverkehrs aus, zu dem auch Handwerker und Pflegedienste, Lieferfahrzeuge für Aldi und Edeka oder Müllfahrzeuge zählen. Solche Zahlen hat der Thinktank Agora Verkehrswende gemeinsam mit der Universität Wuppertal recherchiert. Deren Publikation „Liefern ohne Lasten“ will der Politik helfen, den Wandel auf den Straßen zu steuern – denn bisher fokussiert sich der Blick in vielen Rathäusern beim Thema Verkehr fast nur auf Pkw.

„Ambitionierte Ziele und Maßnahmen sind im Bereich des städtischen Güterverkehrs in Deutschland bislang kaum verbreitet. Stattdessen befinden sich zahlreiche Kommunen in der Defensive und bemühen sich, eventuelle Fahrverbote für Diesel-Lieferfahrzeuge abzuwenden“, beschreibt Agora Verkehrswende die Lage.

Doch abzuwarten ist keine Lösung. Die Bundesregierung geht davon aus, dass die Zahl der leichten Nutzfahrzeuge im Zeitraum 2016 bis 2030 um 44 Prozent steigt, die Lkw-Flotte soll um 23 Prozent wachsen. Ohne Gegenmaßnahmen wird die Verstopfung vieler Städte zum Dauerzustand. Auch das Klimaziel, das ein Minus der CO2-Emissionen im Verkehr um 42 Prozent vorsieht, wird dann krachend verfehlt.

Gebietskonzessionen vergeben

Ein Problem ist der Wildwuchs der Kurier-Express-Paketdienste – im Fachjargon KEP genannt. Die Lieferungen der Großkonzerne UPS, DHL, Hermes, dpd und GLS laufen völlig unkoordiniert, oft steuern mehrere Wagen dieselbe Straße gleichzeitig an und parken dann häufig in der zweiten Reihe. Weil der Versender entscheidet, welches Unternehmen beauftragt wird, klingeln im schlechtesten Fall mehrere Kuriere hintereinander an derselben Haustür.

Bündelung ist das Schlagwort, das in diesem Zusammenhang immer wieder fällt. Sinnvoll wäre es beispielsweise, am Rande von Metropolen große Zen­trallager einzurichten und von dort aus im Stadtgebiet verteilte Mikro-Hubs zu beliefern. Für die sogenannte letzte Meile könnten Kommunen theoretisch Gebietskonzessionen vergeben und vorschreiben, dass die Pakete mit Elektrofahrzeugen, Lastenfahrrädern oder Sackkarren ausgeliefert werden müssen – und zwar egal, wer sie angeliefert hat. Doch dafür fehlt in Deutschland bisher die rechtliche Grundlage. „Es gibt zwar ein paar Pilotprojekte. Aber die Kommunen haben zu wenige Möglichkeiten, Vorgaben zu machen und den Verkehr einzuschränken“, fasst Verkehrswissenschaftler Weert Canzler vom Wissenschaftszentrum Berlin zusammen.

Immerhin haben auch die Paketdienste inzwischen verstanden, dass es in dicht besiedelten Gebieten sinnvoll ist, Elektrofahrzeuge und -räder einzusetzen. In Berlin lief im Bezirk Prenzlauer Berg ein Pilotversuch, bei dem die stadteigene Hafengesellschaft BeHala Container mit überdachten Ladeflächen für die fünf Paketdienste aufstellte. Von dort aus pedalierten Kuriere mit großen Anhängern und verteilten Pakete im Radius von drei Kilometern. Der Versuch gilt als erfolgreich und wird an zwei anderen Standorten fortgesetzt. In einem Szenario hat das Umweltbundesamt die Folgen berechnet, wenn 75 Prozent der Paketlieferungen in Innenstadtbereichen aufs Fahrrad verlagert würden. Damit ließen sich jährlich 50?000 Tonnen CO2 einsparen – das entspricht der Menge des klimaschädlichen Gases, die 2,5 Millionen Pkw verursachen, wenn sie jeweils 100 Kilometer zurücklegen.

Freilich verhindert der Einsatz von Elektrofahrzeugen und Lastenrädern noch keine Parallelverkehre. Dafür bräuchte es ganz neue Infrastrukturen und Kooperationen. Simon Ohm, Professor für nachhaltige Stadtlogistik an der TU Nürnberg, hat ausgerechnet, dass Berlin mit etwa 100 dezentralen Umschlagplätzen für Pakete ausgestattet werden müsste. Von dort aus könnten dann Lastenräder starten, die jeweils alle Pakete für die Bewohnerschaft einer Straße mitnehmen. Sinnvoll wäre es auch, Abholdepots in jedem Wohnblock einzurichten. Das würde den Lieferanten ersparen, wiederholt bei Leuten zu klingeln, die vorher nicht zu Hause waren.

Ein System, das auf die Vermeidung von Parallelverkehren setzt und Kooperation statt Konkurrenz fördert, organisiert die Zukunftsangelegenheiten GmbH in Berlin. Sie verteilt Biogemüse von mehreren Brandenburger Höfen in der Stadt. Zehn Micro-Hubs gibt es bereits – Container auf Brachen oder leerstehende Ladenlokale. Die Verbindung von Versendern, Depotbetreibern und Radler*innen läuft über die digitale Plattform des Netzwerks grüne Stadtlogistik. Sie verknüpft automatisch und für alle Beteiligten transparent die Daten der zu transportierenden Waren mit den Stellplätzen im Depot und den Fahrer*innen.

Ansätze bleiben Stückwerk

Auch in Düsseldorf gibt es einen innovativen Ansatz. Dort lassen viele Läden und Büros ihre Lieferungen zu einem innenstadtnahen Depot bringen, von wo dann alles gebündelt zu einem festen Zeitpunkt bei ihnen in den Geschäften und den Bürogebäuden eintrifft. Entgegen landläufiger Annahmen sind sie durchaus bereit, dafür zu zahlen. Schließlich können die Empfänger ihre Betriebsabläufe so besser planen und die Kundschaft muss sich nicht ständig an Lieferfahrzeugen vorbeiquetschen, bevor sie einen Blick ins Schaufenster werfen kann. Außerdem bietet der Depotbetreiber ABC-Logistik den Unternehmen auch die Möglichkeit, die Ware erst nach und nach abzunehmen, was Lagerfläche vor Ort spart.

Doch alle diese Maßnahmen müssen Stückwerk bleiben, solange es nicht eine Vision für die Zukunft der gesamten Stadt gibt, in die sich der Güterverkehr dann einfügen muss. Amsterdam hat vor zwei Jahren das klare Ziel ausgegeben, dass der Verkehr im Jahr 2030 emissionsfrei sein muss. Es gibt Förderprogramme und Anreize für Unternehmen und zugleich die Ankündigung, dass ab 2025 im Innenstadtbereich benzin- und dieselbetriebene Autos verboten sind. London setzt mit Erfolg auf Marktmechanismen. Weil für die Einfahrt in die Innenstadt eine saftige Citymaut fällig wird, die umso höher ausfällt, desto mehr Schadstoffe aus dem Auspuff quellen, versuchen Unternehmen mit möglichst wenigen und möglichst sauberen Lieferfahrzeugen unterwegs zu sein.

In deutschen Amtsstuben dagegen wird der „Verkehrsbedarf“ häufig noch immer als gegeben hingenommen. Die Straßenverkehrsordnung sieht außer zur Gefahrenabwehr kaum Einschränkungsmöglichkeiten vor für den motorisierten Verkehr. „Dagegen eröffnen sich durch die Anwendung des Straßenrechts eigene Gestaltungsspielräume der Kommune“, wirbt der BUND in einer Handreichung zum Thema städtischer Lieferverkehr. Ist eine Verkehrsfläche als Fußgängerzone ausgewiesen, kann die Stadt Sondererlaubnisse vergeben und beispielsweise nur Lastenfahrräder zulassen.

Bei alledem stellt sich die Frage, ob die ständig anschwellende Angebotswelle die Lebensqualität der Kundschaft tatsächlich steigert. „Sofort einen Lieferdienst anzurufen, wenn die Chips alle sind – das ist doch wirklich gaga“, findet Weert Canzler. Doch solche absurden Kapriolen der Wachstumswirtschaft infrage zu stellen, kommt vielen Politiker*innen bis heute nicht in den Sinn: Sie finden alles gut, was das Bruttoinlands­produkt steigert.

Annette Jensen

ist freie Journalistin und Buchautorin in Berlin und schreibt über Wirtschaft, Umwelt, Transformation. Seit über 20 Jahren beobachtet sie auch die deutsche und internationale Verkehrspolitik u.a. für die fairkehr.
Annette.Jensen@t-online.de

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