Flächengerechtigkeit

Sozial gerechte Verkehrswende für lebenswerte Städte

Dass die Verkehrswende auch sozial gerecht ist, gilt gerade für die Städte: weniger Autoverkehr, der Ausbau des ÖPNV, der Fuß- und Radinfrastruktur und mehr Raum für Begegnungen kommen allen zu Gute, insbesondere aber denen, die ohnehin kein eigenes Auto haben, aber von den Folgen des Autoverkehrs in der Stadt besonders betroffen sind.

| Soziale Aspekte der Verkehrswende

Jahrzehntelang wurden in Deutschland Städte autogerecht geplant, das Auto wurde bei der Verteilung von Geld und Flächen sowie in der Ausgestaltung von Gesetzen bevorzugt. Das Ergebnis sind autogerechte Städte. Das ist nicht nur unfair für diejenigen, die selbst kein Auto besitzen und stattdessen die anderen Verkehrsmittel nutzen, sondern die Flächenungerechtigkeit und Umweltbelastung durch zu viele Autos ist ein Problem für alle Stadtbewohner*innen.

Dabei ist das eigene Auto in Städten, im Gegensatz zu ländlichen Räumen, nicht das Hauptverkehrsmittel. In Städten sind die Wege zur Arbeit oder zum Einkaufen und anderen Erledigungen meist kürzer, sodass viele Wege durch aktive Mobilität zurückgelegt werden können: 27 Prozent der Wege werden zu Fuß, 15 Prozent mit dem Fahrrad zurückgelegt.

Flächengerechtigkeit heißt auch soziale Gerechtigkeit

Die Fläche in unseren Städten ist höchst ungerecht verteilt. Das zeigt sich insbesondere bei Parkplätzen: ein Parkplatz nimmt mindestens zwölf Quadratmeter ein - das ist mehr als ein durchschnittliches Kinderzimmer in Deutschland. Auf diesen Parkplätzen stehen vor allem private Pkw herum, die 23 Stunden am Tag nicht genutzt werden. Gerade in Wohngebieten ist das Parken oft sogar kostenlos, obwohl sich die jährlichen Betriebskosten pro Stellplatz auf 60 bis 300 Euro belaufen und die Baukosten 1.500 bis 5.000 Euro betragen. Obwohl der Raum in unseren Städten immer knapper und teurer wird, geben wir privaten Autos mehr Platz als unseren Kindern. Eine Neuverteilung des öffentlichen Raums muss Teil der Verkehrswende sein.

Die Ungerechtigkeit bei der Flächenverteilung zwischen den Verkehrsträgern zeigt sich deutlich am Beispiel Berlin: nur 3 Prozent der Straßen sind eigene Radwege, während dreizehn Mal so viel Fläche, nämlich 39 Prozent, für fahrende Autos vorgesehen ist, für parkende Autos sind es 19 Prozent.1 Der Großteil der Verkehrsflächen, ganze 58 Prozent, ist also für stehende und fahrende Autos reserviert – und das in Berlin, der Stadt mit dem umfangreichsten Netz öffentlicher Verkehrsmittel und bezogen auf 1000 Einwohner*innen der niedrigsten Pkw-Ausstattung in Deutschland.2 Über die Hälfte der Berliner Haushalte besitzt kein Auto. Hier nimmt also eine Minderheit den Großteil der Verkehrsfläche in Anspruch – das ist nicht gerecht.

Zumal es vor allem einkommensschwächere Haushalte sind, die eher kein Auto besitzen. Sie sind es aber auch, die häufiger an vielbefahrenen Hauptverkehrsstraßen wohnen, da dort die Mieten günstiger sind, und sind damit auch häufiger Luft- und Lärmbelastungen sowie Unfallgefährdungen ausgesetzt. Anwohner*innen dieser Straßen und der benachbarten Gebiete werden also doppelt benachteiligt: Sie haben kein Auto, mit dem sie die Straße befahren und auf der sie es kostengünstig lagern können, gleichzeitig wird ihre Gesundheit gefährdet und ihr Anteil am öffentlichen Raum beschnitten.

Öffentlicher Raum als Ort der Begegnung

Der öffentliche Straßenraum ist ein Raum der Begegnung, in dem Menschen auf einander treffen, kommunizieren und sich aufhalten. Während früher jedoch noch ein beträchtlicher Teil des gesellschaftlichen Lebens "auf" der Straße stattfand, werden Straßen inzwischen kaum mehr als Aufenthaltsorte wahrgenommen. Der motorisierte Verkehr zerschneidet den Lebensraum des Menschen und beeinflusst das Kommunikationsverhalten im Straßenraum. Besonders betroffen sind häufig sozial benachteiligte Quartiere, die durch wenig Grün und viel Asphalt meist recht trostlos daherkommen. Diese Wohngebiete weisen rund ein Viertel weniger Grün auf als der städtische Durchschnitt.3

Doch gerade in sozial benachteiligten Ballungszentren sind öffentliche Flächen als Aufenthaltsorte besonders wichtig, da die Menschen dort oft in kleinen Wohnungen mit vielen Mitbewohner*innen leben, keine eigenen Gärten oder Balkone haben und auch Ausflüge “ins Grüne” unter anderem aus Kostengründen selten unternommen werden. Sozioökonomisch benachteiligte Menschen leiden statistisch gesehen vermehrt unter gesundheitlichen Problemen, sind körperlich weniger aktiv und erhöhten Umweltbelastungen ausgesetzt – auch deshalb sind innerstädtische Grünflächen, Parks und ein ansprechendes Umfeld mit Bewegungs- und Sportmöglichkeiten besonders dort wichtig. Das gilt insbesondere für Kinder aus sozial benachteiligten Haushalten, die aus finanziellen Gründen nicht die Möglichkeit haben in einem Sportverein aktiv zu sein, sondern die auf öffentlich zugängliche Flächen zum Spielen und Sport machen angewiesen sind.4

Auch für das Stadtklima sind Grünflächen essenziell. Die letzten Jahre sind die heißesten gewesen, seitdem die Temperaturen aufgezeichnet werden. Gerade Asphalt und Beton im städtischen Raum heizen sich besonders auf. Umso wichtiger sind Entsiegelung und Grünflächen als Ausgleich, die im Sommer kühlend wirken können. Denn heiße Sommer gehen auch zu Lasten der Gesundheit. Diese Kosten tragen wir alle über die Sozialsysteme.

Die Rückeroberung der Innenstädte durch verkehrsberuhigte und autofreie Zonen, mehr Platz für Grünflächen, Spielplätze und Begegnungsorte ist also aus vielen Gründen eine gute Idee: für das Klima, die Gesundheit und den sozialen Zusammenhalt der Menschen in der Stadt.

Gentrifizierung: Verkehrswende darf nicht zur Exklusion führen

Dabei ist gerade aus sozialer Sicht Vorsicht geboten, dass eine Aufwertung von Quartieren durch weniger Autoverkehr und mehr Grünflächen und Begegnungsorte nicht denen schadet, deren Lebensqualität sie verbessern sollte.

Gerade in Städten steigen die Preise für Grundstücke und Mieten. Wenn sich Menschen dies nicht mehr leisten können, müssen sie dorthin ziehen, wo sie ihre Wohnung bezahlen können. Das ist in der Regel nicht in der Nähe des Arbeitsplatzes oder an Orten der Freizeitgestaltung. Damit wird das erzeugt, was wir weniger wollen: mehr Verkehr, weil mehr Menschen zur Arbeit pendeln müssen. Daher ist auch im innerstädtischen Raum darauf zu achten, dass Menschen mit jedem Geldbeutel dort leben können. Das ist auch gut für das gesamte soziale Gefüge einer Kommune.

Es gilt für die verschiedenen politischen Ebenen, von der Kommune über die Bundesländer bis zum Bund zu verhindern, dass ausgerechnet die Menschen, denen die Aufwertung zu Gute kommen soll, von wohlhabenderer Klientel verdrängt werden. Hier können Maßnahmen zur Regulierung von Mietpreisen, Milieuschutz oder der Bau und Erhalt von Sozialwohnungen helfen.

Stadtplanung und Verkehrsplanung zusammen denken

Eine wichtige Aufgabe der Daseinsvorsorge ist es, eine gute Erreichbarkeit alltäglicher Ziele zu Fuß, mit dem Fahrrad und dem öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) zu gewährleisten. Das ist aber in benachteiligten Stadtteilen nicht immer der Fall. Die Belegung des öffentlichen Straßenraums durch den Autoverkehr führt zu knappen Flächen für Fußgänger*innen, Radfahrer*innen, Aufenthalt, Kommunikation und Grünflächen. Eine Verbesserung und fairere Verteilung dieser Flächen erfordert integrierte Konzepte zur Gestaltung des Straßenraums, die sowohl die Belange des Verkehrs als auch anderer Nutzungen berücksichtigen.

In der Stadtplanung und Programmen wie der Sozialen Stadt, die sich mit benachteiligten Stadtquartieren befasst, spielen Mobilität und Verkehr häufig eher eine untergeordnete Rolle. Auf der anderen Seite befasst sich die Verkehrsforschung und –planung noch zu wenig mit sozialen Randgruppen und benachteiligten Quartieren, obwohl gerade dort häufig besondere Belastungen durch den Verkehr bestehen und gleichzeitig die Menschen schlechteren Zugang zu Mobilitätsangeboten haben. Für eine Verkehrswende und nachhaltige Stadtentwicklung müssen also Mobilitäts- und Stadtplanung noch enger zusammen gedacht werden, um auch den Mobilitätsbedürfnissen von Menschen in sozial benachteiligten Quartieren gerecht zu werden.5

Forderungen für eine sozial gerechte Verkehrswende und lebenswerte Städte

  • Faire Verteilung von Flächen: Es braucht mehr, breitere und komfortablere Verkehrswege und Begegnungszonen für Fußgänger*innen und Radfahrer*innen im Stadtraum und mehr Platz für Grünflächen und Spielmöglichkeiten.
  • Parkraummanagement: Parkgebühren müssen gegenüber anderen Gebühren, die im öffentlichen Raum für Flächen erhoben werden, deutlich angepasst werden. Die finanziellen Mittel der Parkraumbewirtschaftung können als Teil eines gesamtstädtischen Mobilitätskonzepts in die Förderung von Bus, Bahn, Rad- und Fußverkehr fließen.
  • Verkehrssicherheit: Tempo 30 als Regel innerorts bedeutet, dass deutlich weniger Unfälle tödlich verlaufen oder Menschen schwer verletzen – Ausnahmen für Tempo 50 schließt das nicht aus. Tempo 30 ist auch ein Beitrag zur Lärmreduktion.
  • Enge Verzahnung von Stadt- und Verkehrsplanung: Sowohl Verkehrs- als auchStadtplanung müssen die Mobilitätsbedürfnisse von Menschen in benachteiligten Quartieren mitdenken.

Rückeroberung der Straße

Noch mehr Informationen zum Thema lebenswerte Städte findet ihr in unserem VCD Themenpapier und inspirierende Geschichten und Ideen zum Straße-zurück-erobern auf https://www.strasse-zurueckerobern.de


Quellen

(1) Agentur für Clevere Städte (2014): Wem gehört die Stadt? Der Flächen-Gerechtigkeits-Report. www.clevere-staedte.de/files/tao/img/blog-news/dokumente/2014-08-05_Flaechen-Gerechtigkeits-Report.pdf

(2) Agora Verkehrswende (2020): Städte in Bewegung. Zahlen, Daten, Fakten zur Mobilität in 35 deutschen Städten. https://www.agora-verkehrswende.de/fileadmin/Projekte/2020/Staedteprofile/Agora-Verkehrswende_Bewegung_in_Staedten_1-2.pdf

(3) Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (BMUB) (2015): Grün in der Stadt – Für eine lebenswerte Zukunft. Grünbuch Stadtgrün. https://bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/publikationen/themen/bauen/wohnen/gruenbuch-stadtgruen.pdf?__blob=publicationFile&v=3

(4) Deutsche Umwelthilfe (DUH) (2017): Grün. Sozial. Wertvoll. Gemeinsam Natur in sozial benachteiligte Quartiere holen! Empfehlungen und Beispiele für Kommunen. https://www.duh.de/fileadmin/user_upload/download/Projektinformation/Kommunaler_Umweltschutz/Umweltgerechtigkeit/Gruenflaechen/Gruen.Sozial.Wertvoll._Gemeinsam-Natur-in-sozial-benachteiligte-Quartiere-holen.pdf

(5) Klaus J. Beckmann, Tilman Bracher, Markus Hesse (2007): Im Brennpunkt: Städtische Mobilität und soziale Ungleichheit. Deutsche Zeitschrift für Kommunalwissenschaften (DfK), Bd. 2, Deutsches Institut für Urbanistik.

Grafiken:

infas, DLR, IVT und infas 360 (2018): Mobilität in Deutschland. MiD-Ergebnisbericht. Studie im Auftrag des BMVI. www.mobilitaet-in-deutschland.de 

Heinrich-Böll-Stiftung und VCD (2019): Mobilitätsatlas. Daten und fakten für die Verkehrswende. https://www.boell.de/sites/default/files/2020-10/mobilitaetsatlas2019_II.pdf?dimension1=ds_mobilitaetsatlas

Kontakt

Katharina Klaas

Projektbearbeiterin für das Projekt »Verkehrswende: klimaverträglich und sozial gerecht«

katharina.klaas@vcd.org

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