Wo alles begann: Demo des „Volksentscheids Fahrrad“ in Berlin.

Erfolgsmodell Radentscheid?

In Deutschland kommen Menschen in Initiativen zusammen, um per Volks- oder Bürgerentscheid bessere Fahrradinfrastruktur einzufordern. Wie wirkungsvoll sind diese Radentscheide?

Der „Volksentscheid Fahrrad“ aus Berlin hat der Bewegung für nachhaltige Mobilität neuen Schwung verliehen. Erstmals ging die Initiative im Dezember 2015 mit ihren Forderungen an die Öffentlichkeit. Mitte 2016 sammelten die Aktiven in weniger als vier Wochen 105.000 Unterschriften für ihre Ziele und lieferten diese beim Land ab. Zwei Jahre später verabschiedete das Abgeordnetenhaus von Berlin das Berliner Mobilitätsgesetz. Die Paragrafen über den Radverkehr tragen die Handschrift der Initiative. Die Abgeordneten haben festgelegt, dass das Land bis 2025 100.000 Fahrradstellplätze und 100 Kilometer Radschnellverbindungen bauen muss. Über 50 Millionen Euro jährlich sollen in den Radverkehr fließen.

Der Berliner Volksentscheid hat Rad­entscheide in Bamberg, Darmstadt, Frankfurt am Main, Kassel und Stuttgart inspiriert, um nur die am weitesten gediehenen Initiativen zu nennen. In Nordrhein-Westfalen hat sich mit „Aufbruch Fahrrad“ ein Bündnis entwickelt, dass landesweit einen Radverkehrsanteil von 25 Prozent erreichen will. Was haben diese Radentscheide bislang erreicht?

Das Prinzip, nachdem die Initiativen vorgehen, ist bundesweit gleich: Eine offene Gruppe von Bürgerinnen und Bürgern stellt Forderungen für den Radverkehr auf – etwa den Bau von Radwegen und Fahrradabstellanlagen. Ehrenamtliche Helfer sammeln Unterschriften für ein Bürger- oder Volksbegehren. Wenn eine gesetzlich festgelegte Anzahl von Unterschriften erreicht ist, muss sich die Stadt oder das Land mit den Forderungen befassen. Es kann diese entweder übernehmen oder ablehnen. Kommt es zur Ablehnung, werden alle wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürger zur Abstimmung über die Forderungen gebeten, die auf kommunaler Ebene Bürgerentscheid und auf Landesebene Volksentscheid heißt. Stimmen die Menschen mehrheitlich für die Forderungen der Radinitiative, muss die Stadt beziehungsweise das Land diese umsetzen.

Von den Menschen vor Ort bekommen die Radentscheide große Zustimmung. In Bamberg haben 8.700 Menschen unterschrieben, in Darmstadt 11.500, in Frankfurt 40.000, in Kassel 22.000, in Stuttgart 35.000. Die für ein Bürgerbegehren nötige Stimmenzahl wurde damit in allen Städten deutlich übertroffen.

In den hessischen Städten Darmstadt und Kassel sowie in der baden-württembergischen Landeshauptstadt Stuttgart haben die kommunalen Verwaltungen die Bürgerbegehren für rechtlich unzulässig erklärt. In Frankfurt steht das Ergebnis des Rechtsgutachtens noch aus.

Heiko Nickel, politischer Geschäftsführer des VCD Hessen und Mitinitiator des Frankfurter Radentscheides, kann für sein Bundesland die Gründe nennen: „In Hessen ist die Gemeindeordnung widersprüchlich. Alle für ein Bürgerbegehren erforderlichen Informationen müssen auf demselben Zettel zu lesen sein, auf dem die Interessierten ihre Unterschrift leisten. Anlagen sind nicht erlaubt. Auf einer Seite müssen neben den Forderungen auch die Finanzierung und die Gegenfinanzierung dargelegt werden. Dafür brauchte man eigentlich 50 Seiten. Es ist also nicht verwunderlich, dass Bürgerbegehren leicht abgelehnt werden können.“

Hohe bürokratische Hürden

Dass die hessische Rechtslage erlaubt, Bürgerbegehren einfach wegzuwischen, ist skandalös. Die Fahrradaktivisten wollen sich das nicht bieten lassen. „Wenn die Frankfurter Stadtverwaltung das Bürgerbegehren für rechtlich unzulässig erklärt, sind wir bereit, das Thema vor dem hessischen Verwaltungsgerichtshof klären zu lassen“, so Nickel. „Man hat uns vorgeworfen, dass wir nicht so viele Stimmen gesammelt hätten, wenn wir in unsere Forderungen aufgenommen hätten, dass für Radspuren, etwa an der Friedberger Landstraße, auch Fahrspuren oder Parkplätze wegfallen müssen.“

Laut VCD-Mann Nickel haben die Rad­entscheide in Hessen viel erreicht: „In allen drei Städten haben wir eine öffentliche Debatte angestoßen. Die Kommunen haben kleinere Sofortmaßnahmen umgesetzt. Sie haben beispielsweise Fahrspuren für Radfahrer markiert. Bislang hat aber nur Darmstadt Strukturen verändert. Die Stadt hat vier Radverkehrsplaner eingestellt und wird in den kommenden vier Jahren insgesamt 16 Millionen Euro für Fahrradfahrer investieren.“

Die Landesverbände von VCD und ADFC in Hessen haben im März beschlossen, eine landesweite Initiative für einen Mobilitätsentscheid zu gründen. Dort arbeiten der VCD und die Radentscheide eng zusammen. Das zeigt nicht nur das private Engagement von Heiko Nickel im Frankfurter Radentscheid. Der VCD Hessen hat Spendenkonten eingerichtet, damit Spenden an die Radinitiativen steuerlich absetzbar sind. Das hätten die Radentscheide, die nicht als gemeinnützige Vereine organisiert sind, nicht selbst tun können. In Kassel stellt der VCD dem Radentscheid die Räumlichkeiten der Geschäftsstelle für Treffen zur Verfügung, und VCD-Mitarbeiterin Christine Heckmann unterstützt organisatorisch. „Einige Initiatoren des Radentscheides Darmstadt wurden auch in den Vorstand des VCD-Kreisverbandes Darmstadt-Dieburg gewählt. Dieser Generationswechsel gab den Aktivitäten vor Ort ganz neuen Schwung“, sagt Heiko Nickel.

Bamberg war nach Berlin die zweite Stadt, in der es einen erfolgreichen Radentscheid gab. Wie zuvor das Land Berlin hat die Kommune alle Forderungen der Bürgerinitiative übernommen. Damit war auch in Bamberg kein Referendum nötig. Es gibt aber noch einen weiteren Punkt, der beiden Radentscheiden gemeinsam ist: Die Aktiven vor Ort sind unzufrieden mit der Umsetzung ihrer Forderungen. Die Bamberger Aktiven haben die Zusammenarbeit mit der Stadt im November 2018 aufgekündigt. Gegenüber dem Internetportal inFranken.de beklagte Mitinitiator Christian Hader, dass auf der Straße so gut wie nichts angekommen sei. Bei der Stadtverwaltung gebe es eine Abwehrhaltung gegenüber den eigenen Beschlüssen.

In Berlin haben die Aktiven im März die Gespräche mit dem Senat zum Radverkehrsplan abgebrochen. Als Ergebnis reiche dem Senat ein dünnes und unverbindliches Papier, das wichtige Fragen zum Ausbau der Radinfrastruktur unbeantwortet lasse, so Evan Vosberg, stellvertretender Vorsitzender des ADFC Berlin. „Die Umsetzung des Mobilitätsgesetzes wird weiterhin stocken – die versprochene Verkehrswende geht weiter nur schleppend voran.“

NRW soll Fahrradland werden

Die Volksinitiative „Aufbruch Fahrrad“ aus Nordrhein-Westfalen sammelt derzeit noch Unterschriften. Deren Anzahl wird sie auf dem Verkehrskongress „RADKOMM #5“ am 1. Juni in Köln bekannt geben. Ute Symanski, Vertrauensperson von „Aufbruch Fahrrad“, sagt: „Wir sind sehr zuversichtlich, dass wir die erforderlichen 66.000 Unterschriften schaffen.“ Noch bis zum 1. Mai können Wahlberechtigte aus NRW unterschreiben oder Unterschriften sammeln.

Die bürokratischen Hürden sind bei dem landesweiten Volksbegehren noch größer als bei einem kommunalen Bürgerbegehren. Beispielsweise müssen alle Stimmzettel, auf denen Menschen aus verschiedenen Städten und Gemeinden unterschrieben haben, an die jeweiligen Meldeämter geschickt werden, die die Stimmen verifizieren. Landesweite Öffentlichkeit zu generieren sei schwierig, da es an einem NRW-weiten Leitmedium fehle, so Symanski.

Den Erfolg von „Aufbruch Fahrrad“ misst Symanski nicht allein an der Anzahl der gesammelten Stimmen. „Wir haben ein breites Aktionsbündnis mit über 200 Mitgliedern aufgebaut“, sagt sie. Darunter die Landesverbände großer Organisationen wie VCD, ADFC, BUND, DUH und NABU, kirchliche Initiativen, allgemeine Studierendenausschüsse vieler Universitäten und der aus dem Berliner Volksentscheid hervorgegangene Verein Changing Cities.

Obwohl sich in Deutschland viele Initiativen für mehr Radverkehr starkmachen, bleibt die Frage offen, ob ihre Positionen mehrheitsfähig sind. Denn einen Volks- oder Bürgerentscheid gab es bislang nirgends. Entweder sind die Forderungen der Initiativen von den Kommunen übernommen worden oder die Begehren sind vorerst an bürokratischen Hürden gescheitert. Doch der „Volksentscheid Fahrrad“ hat der Bewegung für nachhaltige Mobilität einen Impuls gegeben. Hunderttausende Menschen in der ganzen Republik haben für bessere Fahrradinfrastruktur unterschrieben. Diese Menschen fordern ihr Recht auf ein sicheres, komfortables Radwegenetz und mehr Raum in der Stadt ein. Jetzt sind die Kommunen gefragt, ihren Versprechen Taten folgen zu lassen.

Benjamin Kühne

ist seit 2014 als Redakteur beim VCD-Magazin fairkehr tätig. Davor studierte er Politikwissenschaft in Gießen. Er ist in Bonn am liebsten mit dem Fahrrad unterwegs und reist gerne mit der Bahn.
benjamin.kuehne@fairkehr.de

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