An der Einfahrt zur Kantstraße informiert dieses Straßenschild ganzjährig über die temporäre Spielstraße.

Temporäre Spielstraßen

Straßenspiel

Anfang Mai erregte Berlin-Kreuzberg mit der Einrichtung von 30 temporären Spielstraßen großes Aufsehen. In Bremen hat das Konzept schon Tradition.

Mittwochnachmittag, Viertel nach drei. In der Kantstraße in der Bremer Neustadt ist es noch ruhig. Nur ein Scherengitter an jedem Ende der Straße, das die Einfahrt für Autos unmöglich macht, deutet auf das hin, was hier heute passieren wird. Eine Mutter sitzt mit ihren beiden Töchtern am Straßenrand und malt Kreidebilder. Sie sind heute die ersten Nutzerinnen der temporären Spielstraße.

Von April bis Oktober gehört dieser Abschnitt der Kantstraße jeden Mittwochnachmittag für drei Stunden den Kindern. Ein Straßenschild an der Einfahrt der Einbahnstraße weist auf das Fahrverbot für Autos in dieser Zeit hin. In Bremen gibt es momentan sieben dieser sogenannten temporären Spielstraßen. An je einem Nachmittag in der Woche ist die Fahrbahn zum unbeschwerten Straßenspiel freigegeben.

„Angefangen haben wir 2011 mit drei Straßen im Stadtteil Schwachhausen“, erinnert sich Jürgen Brodbeck. Der Leiter der örtlichen VCD-Geschäftsstelle arbeitete damals für den Verein SpielLandschaft Stadt e. V. und begleitete den Prozess intensiv. „Es war ein Pilotprojekt als Ergebnis einer Spielleitplanung. Treibende Kraft war Tamara Hüls vom Amt für Soziale Dienste.“ Eine Spielleitplanung erhebt den Bedarf nach Spiel- und Bewegungsflächen in einem Stadtteil. Die Ergebnisse fließen in die Stadtplanung mit ein. Hüls hatte von temporären Spielstraßen in Frankfurt gehört und war überzeugt, damit die Spielsituation in Schwachhausen verbessern zu können. Kindern und Eltern gefielen die Straßen zum Spielen und Toben so gut, dass die Spielstraßen auf unbegrenzte Zeit eingeführt wurden und weitere Straßen hinzukamen.

Die Kantstraße hat sich inzwischen mit Kindern gefüllt. Sie rennen, rollern, skaten, Eltern unterhalten sich am Straßenrand oder laufen mit den Kindern mit. „Jetzt sieht man erst, wie viele Kinder hier wohnen“, sagt eine Anwohnerin, deren dreijährige Tochter auf ihrem Laufrad vorbeisaust. Obwohl es eigentlich verboten ist, parken in der Straße heute viele Autos. „Das ist am Anfang der Saison immer so. Wenn die Spielstraße ein paar Mal stattgefunden hat, erinnern sich die meisten Leute wieder und fahren ihre Autos rechtzeitig weg“, erzählt die Anwohnerin.

Spielflächen sind knapp

„Kinder brauchen Raum, um sich bewegen zu können und Fahrrad- oder Rollerfahren gefahrlos zu üben“, erklärt Ulrike Herold, die mit dem Verein SpielLandschaft Stadt e. V. die temporären Spielstraßen unterstützt und berät. VCD-Experte Jürgen Brodbeck ergänzt: „Besonders Autofahrer nehmen Kinder im Straßenverkehr immer noch viel zu wenig wahr, dabei sind sie nur begrenzt verkehrsfähig und verdienen besondere Rücksicht. Wir müssen Kinder viel öfter plakativ in den Verkehrsraum holen, damit jeder mit ihnen rechnet.“ Brodbeck engagiert sich dafür schon seit über 20 Jahren und initiierte bereits 1998 die Bremer Straßenspielaktion zum Weltkindertag.

In vielen deutschen Städten reichen die Spiel- und Freiflächen in Wohnortnähe für Kinder nicht aus. Das hat der vor kurzem veröffentlichte Kinderreport des Deutschen Kinderhilfswerks bestätigt. 33 Prozent der befragten Kinder und Erwachsenen gaben an, dass es keine geeigneten Orte zum Spielen in der Nähe ihrer Wohnung gäbe. 35 Prozent der Kinder und 64 Prozent der Erwachsenen sind außerdem der Meinung, der Straßenverkehr sei zu gefährlich um draußen zu spielen.

Ein Nachbarschaftsprojekt

„Temporäre Spielstraßen sind eine kostengünstige Möglichkeit, um mit geringem Aufwand Abhilfe zu schaffen“, sagt Sozialpädagogin Ulrike Herold. Das Verfahren sei relativ unkompliziert. „In Bremen muss der Beirat einer temporären Spielstraße zustimmen. Dann muss noch das Amt für Straßen und Verkehr bestätigen, dass die Spielstraße verkehrstechnisch möglich ist.“ Das Wichtigste ist aber, dass es unter den Anwohner*innen eine Mehrheit für die Einrichtung der temporären Spielstraße gibt. Da es bei Anwohnerversammlungen zu diesem Thema ganz schön hitzig zugehen kann, übernimmt SpielLandschaft Stadt oft die Moderation. „Natürlich gibt es auch immer Anwohner, die gegen die Spielstraße sind. Das Argument „Wenn ich dann aber dringend irgendwo hin muss“ hören wir oft. Insgesamt zeigt unsere Erfahrung aber, dass die temporären Spielstraßen sich positiv auf die Nachbarschaft auswirken und auch Anlieger ohne Kinder sich einbringen“, erzählt Herold. „Manche Straßen machen aus den Spielnachmittagen regelrechte Straßenfeste.“

Das können auch die Anwohner*innen der Kantstraße bestätigen. Überall in der Straße sitzen Menschen auf den Treppen vor ihren Häusern und unterhalten sich. „Meistens backt auch jemand einen Kuchen oder stellt Obst und Knabbersachen für die Kinder vors Haus“, erzählt eine Anwohnerin. Zu Corona-Zeiten wird darauf allerdings verzichtet. „Wir haben eine WhatsApp-Gruppe für die Organisation der Spielstraße. Im Lockdown ist dort eine richtige Nachbarschafts-Tauschbörse  für die ganze Straße entstanden“, berichtet die Anwohnerin begeistert.

Schwammige Angelegenheit

Die Organisation klappe meistens gut, meint ihr Mann. „Zumindest, wenn hinterher genug Personen beim Aufräumen helfen.“ Die Scherengitter, mit denen die Anwohner*innen die Straße absperren, lagern bei einer Nachbarin im Keller. Dort stehen auch die gemeinschaftlichen Spielsachen, die die Straße angeschafft hat. Im Moment bleiben sie aber wegen Corona im Keller. Jedes Kind muss seine eigenen Spielsachen benutzen. „Wir haben zum Beispiel große Bauklötze und auch ein Bällebad angeschafft. Da kann das Aufräumen schon mal länger dauern, denn die Bälle verteilen sich über die ganze Straße“, lacht der Anwohner.

Finanziert haben die Anwohner*innen der Kantstraße die Scherengitter und die Spielsachen über den Förderfonds „Spielräume schaffen“. „Das ist in Bremen einzigartig, dass Spielräume auf diese Weise gefördert werden können“, sind sich Brodbeck und Herold einig. Dass es trotzdem nur wenige temporäre Spielstraßen in der Stadt gibt, liege wohl an der Angst vor juristischen Schwierigkeiten, glaubt Ulrike Herold. „Die Gesetzeslage ist da leider etwas schwammig. Die Einrichtung von temporären Spielstraßen ist zwar laut StVO rechtlich möglich, die Formulierung kann aber unterschiedlich ausgelegt werden.“ „Außerdem ist der Straßenraum laut StVo dem fließenden Verkehr vorbehalten“, ergänzt Jürgen Brodbeck. Er ist deshalb überzeugt, dass die professionelle Beratung und Begleitung durch den Verein SpielLandschaft Stadt e. V. wichtig für den Erfolg der temporären Spielstraßen in Bremen ist.

Die Mitarbeiter*innen des Vereins besuchen die Spielstraßen mehrmals im Jahr mit ihrem Bewegungs-Ernährungs-Mobil (bemil), das vollgepackt mit Spielsachen für draußen ist. Wegen Corona durfte das bemil in diesem Jahr noch nicht ausrücken – die Kinder in der Kantstraße genießen ihren autofreien Nachmittag aber auch ohne die zusätzlichen Materialien. Das kleine Kreidebild ist inzwischen zu einem großen Straßengemälde angewachsen, Kinder spielen überall. Noch bis 18 Uhr gehört die Fahrbahn ihnen. Und nächsten Mittwochnachmittag werden sie alle wieder da sein.

Katharina Baum

arbeitet seit 2020 als Volontärin beim VCD-Magazin fairkehr.
katharina.baum@fairkehr.de

zurück

Cookie-Einstellungen ändern