Die neueste Geschichte zum Thema Flächengerechtigkeit auf der Online-Plattform unseres Projekts “Straßen für Menschen” erzählt von der zeitweisen Umgestaltung einer von Autos dominierten Straße in Dortmund zu einer grünen, lebendigen und lebenswerten Straße, die zum Spielen, Austauschen und Verweilen einlädt.
Was wäre, wenn auf 40 Parkplätzen in einer belebten Straße plötzlich Blumen blühen, Liegestühle auf Rollrasen zum Sonne tanken einladen und die Nachbarschaft sich am Tischkicker trifft? Ein Projektteam, bestehend aus dem Wuppertal Institut, dem Emschergenossenschaft/Lippeverband und der MUST Städtebau GmbH, hat es im Auftrag des Umweltministeriums NRW ausprobiert und berichtet von den Erfahrungen.
Blechlawinen dominieren unseren Alltag
Das Dortmunder Kreuzviertel gehört mit seinen schönen Altbaufassaden und den zahlreichen Cafés, Bars und Kneipen zu den beliebtesten Szenevierteln im ganzen Ruhrgebiet. Viele Menschen zieht es dorthin, sei es, um auszugehen oder um nahe des Stadtkerns zu leben. Die Kehrseite davon sind die zahllosen Autos, die auf der mühevollen Suche nach einem Parkplatz schonmal an Kreuzungen oder auf dem Gehweg geparkt werden. Das beeinträchtigt die Sicht im Straßenverkehr und erschwert das Durchkommen insbesondere für Menschen im Rollstuhl oder mit einem Kinderwagen. Und die parkenden PKW brauchen sehr, sehr viel Platz.
Angesichts der raumgreifenden Blechlawinen stellt sich die Frage, die das Projekt „Lebenswerte Straßen, Orte und Nachbarschaften“ beschäftigt hat: Wie kann eine Straßengestaltung aussehen, die die Bedürfnisse möglichst aller berücksichtigt?
Um Antworten auf diese Frage zu finden, beschäftigte sich das Projektteam nun seit gut einem Jahr mit dem Neuen Graben, eine der Lebensadern im Kreuzviertel. Der Vorteil? Aufgrund ohnehin notwendiger Kanalsanierungen bietet sich die Straße an, um den Straßenraum ganz neu zu denken und so eine Blaupause für andere Straßen zu schaffen.
Was sich die Anwohnerschaft (scheinbar) wünscht
Um zu verstehen, was sich die Anwohnerschaft für einen möglichen Umbau wünscht, wurde Ende 2020 eine Online-Umfrage im Stadtteil durchgeführt. Die Ergebnisse waren eindeutig. Die rund 700 Teilnehmenden wünschten sich mehr Grün in Form von Wildblumenwiesen oder Bäumen in der Straße, weniger parkende Autos im Straßenraum (stattdessen eine Quartiersgarage) und insgesamt mehr öffentlichen Raum zum Spielen, Verweilen und sich Austauschen.
Auf Basis dieser Rückmeldungen entwickelte das Projektteam „Zukunftsbilder“, die die Vorschläge greifbar machten und den weiteren Austausch anregten.
Wenn Zukunftsbilder Wirklichkeit werden
Nun sind die Zukunftsbilder ganz schön, doch was passiert, wenn sie Realität werden? Wie reagieren Menschen darauf, wenn 40 Parkplätze wegfallen und sich der Parkdruck weiter verschärft? Was denken autolose Haushalte? Um das herauszufinden, wurden für zwei Wochen auf einer Länge von etwa 100 Metern dort, wo sonst Autos parken, Blumenkübel, Sitzbänke, Liegestühle und Spielgeräte platziert. Nun konnten Anwohner*innen und Passant*innen auf der Straße die Sonne genießen, zwischen den Büschen und Blumen ein Buch lesen, sich mit Freunden treffen und eine entspannte Zeit mit ihren Kindern verbringen.
Wie kam die Veränderung bei der Anwohnerschaft an?
Es gab gerade zu Beginn viel Kritik, aber eben auch viel Begeisterung. Um das Stimmungsbild einzufangen wurden viele Einzelgespräche geführt, Rückmeldungen über eine Umfrage per QR-Code gesammelt und Vor-Ort-Sprechstunden und Workshops durchgeführt. Die Rückmeldungen führten zu wichtigen Erkenntnissen für die weitere Planung, machten aber auch die Herausforderungen klar.
1) Heiligtum Parkraum
Auch im Kreuzviertel mit einer augenscheinlich nachhaltig eingestellten Bewohnerschaft erwarteten viele PKW-Halter einen kostenfreien Stellplatz vor der Haustür.
2) Wenn Aufenthaltsqualität in Lärm umschlägt
Während die Umgestaltung gut angenommen wurde, führte das vor allem nachts zu Problemen. Leider kam es zu nächtlicher Ruhestörung, manch ein direkter Anwohner wünschte sich sogar die Autos zurück, da diese in den Nachtstunden lautlos vor sich hin parken.
3) Wem gehört die Straße? Wer will was?
In den Diskussionen und Umfragen zeigte sich, dass insbesondere drei Eigenschaften dafür ausschlaggebend waren, wie Zukunftsbilder und Umgestaltung bewertet wurden. Wer keinen PKW besaß, unter 36 Jahre alt war und im Quartier, nicht aber direkt im Neuen Graben wohnte, war besonders angetan. Menschen mit PKW, über 35, die direkt im Neuen Graben wohnten, sahen die Umgestaltung hingegen kritischer.
Wie geht es weiter?
Der Neue Graben wird aufgrund der Kanalsanierung auf jeden Fall umgebaut. Über das Ambitionsniveau muss nun (Dezember 2021) die Kommunalpolitik entscheiden. Wesentlich hierfür ist die Frage wie viele Parkplätze im öffentlichen Raum entfallen. Erst dadurch entsteht Platz für mehr Stadtgrün, nachhaltige Mobilitätsformen oder mehr Nachbarschaftlichkeit. Hier das richtige Maß zu finden ist nicht leicht und sicher braucht es auch Alternativen (z.B. Quartiersgaragen) für diejenigen, die heute noch nicht auf ihr Auto verzichten können. Der Versuch hat jedoch gezeigt, dass es sich der Weg lohnt, weil so am Ende Straßen für ALLE entstehen.
Weitere Infos zu dem Projekt finden sich unter lebenswerte-strasse.de.
Diese inspirierende Geschichte von den Erfahrungen des Projektteams ist nur eines von vielen vorgestellten Beispielen zu umgesetzter Flächengerechtigkeit.
Kontakt
Unser “Straßen für Menschen”-Team
strassezurueckerobern@vcd.org