Flickenteppich Europa

Die Deutsche Bahn verspricht, Bahnreisen in Europa einfacher zu machen. Aber kann sie das auch halten? Auf einer Zugfahrt mit dem grünen EU-Abgeordneten Michael Cramer erfährt fairkehr-Redakteurin Uta Linnert, warum vieles nicht klappt.

Für ein Interview zum Bahnfahren in Europa gibt es keinen geeigneteren Ort, als den grünen Verkehrspolitiker und Bahnexperten Michael Cramer direkt im Zug zu treffen. Dachten wir. Doch der Abgeordnete im Europaparlament fährt seinen wöchentlichen Arbeitsweg von Berlin nach Brüssel normalerweise nicht mit der Bahn, sondern steigt in Tegel ins Flugzeug. Aber heute streikt das Sicherheitspersonal an den Berliner Flughäfen, viele Flüge fallen aus. Im Großraumwagen des ICE sind trotzdem viele Plätze frei. Es ist schön ruhig, zumindest in der ersten Klasse.

fairkehr: Eine Stunde Flugzeit von Berlin nach Brüssel und Sie sitzen im Zug, müssen umsteigen in Köln und sind sechseinhalb Stunden unterwegs. Warum?

Michael Cramer: Heute, weil wir uns treffen. Manchmal mache ich es, wenn es mit den Terminen passt, aber das ist die Ausnahme. Zur Sitzungswoche nach Straßburg fahre ich mit dem Zug, aber nach Brüssel fliege ich normalerweise.

Wir wollen über den grenzüberschreitenden Bahnverkehr sprechen. Wie klappt es auf der Strecke, die wir heute fahren – von Berlin nach Brüssel oder weiter nach Paris und London?

Von Brüssel nach Paris in einer Stunde zwanzig Minuten, das ist super. Da ist der Flugverkehr eingestellt worden. Die Verbindung von Frankfurt nach Brüssel im ICE ist ebenfalls sehr gut. Sie sollte verlängert werden nach London, was unter anderem deshalb nicht klappt, weil die Industrie seit Jahren keine geeigneten Züge baut. Dort behält Euro­star das Monopol und Reisende müssen in Brüssel umsteigen. Aus Düsseldorf über Brüssel nach Paris fährt der Thalys, ein Zug der französischen Bahngesellschaft. Das führt allerdings zu Problemen beim Ticketverkauf.

Die gerade genannten Strecken sind also schon Vorzeigestrecken?

Auch die Strecken nach Zürich klappen sehr gut, neuerdings auch wieder die Strecke von Berlin nach Wien, tagsüber mit dem ICE und wieder mit dem Nachtzug. Nach Warschau geht’s auch gut, Kopenhagen war schon mal besser.

Wir legen eine Gesprächspause ein. Michael Cramer freut sich, dass am Zugfenster Ennepetal vorbeizieht, die Stadt am südlichen Rand des Ruhrgebiets, in der er aufgewachsen ist. Im Zentrum steht eine große weiße Kirche. „Dort bin ich konfirmiert worden“, sagt er. Cramer, Jahrgang 1949, kennt sogar noch seinen Konfirmationsspruch: „Dienet dem Herrn mit Freuden.“ Hier hat er als Schüler Trompete gespielt. Eigentlich hatte er vorgehabt, Musiker zu werden, doch dann wollte er lieber in der Politik die Welt verändern und zog nach Berlin.

Flugzeuge starten und landen überall auf der Welt, alles ist international geregelt. Warum klappt das beim Bahnfahren im 21. Jahrhundert nicht?

Wir haben zwanzig unterschiedliche Zug­sicherungs- und Signalsysteme in Europa, vier Spurbreiten und unterschiedliche Stromspannungen. In Spanien und Finnland sind es zum Beispiel Breitspuren. Die erste Innovation in Spanien war der Bau der Hochgeschwindigkeitsstrecke von Madrid nach Sevilla in der europäischen Normalspur. Obwohl die Spanische Bahn und der Verkehrsminister dagegen waren, hat sich der damalige Ministerpräsident durchgesetzt, um das Land mit Europa zu verbinden. Heute sind Madrid und Barcelona von Marseille aus per Normalspur erreichbar. Das Gleiche passiert gerade mit der Rail Baltica: Die Eisenbahnverbindung von Berlin über Warschau, Kaunas und Riga nach Tallinn mit Anschluss an Helsinki wird nicht in der dort üblichen russischen Breitspur, sondern in Normal­spurbreite gebaut.

Und warum gibt es so viele Zugsicherungs- und Signalsysteme?

Die Systeme hatten sich in Europa in den letzten 150 Jahren in den einzelnen Staaten unterschiedlich entwickelt. Trotz der seit Jahrzehnten existierenden EU sind Eisenbahnunternehmen die letzten natio­nalistischen Behörden in Europa. Es gibt das ERTMS, ein System zur Steuerung und Sicherung des Eisenbahnverkehrs. Es ist weltweit anerkannt und erhöht auch die Streckenkapazität um 30 Prozent. Schon vor 15 Jahren, in meinem ersten Bericht im Europaparlament, habe ich gefordert, dass dieses System einheitlich und kompatibel sein muss. Mitgliedstaaten und Industrie haben sich beharrlich gewehrt und überall Abweichungen eingebaut. Deshalb haben wir in Europa zwar mehr als 10.000 Kilometer Schienenwege mit ERTMS, aber keine einzige Lokomotive, die auf allen Strecken fahren kann.

Die deutschen ICEs könnten also auf vielen Strecken gar nicht fahren?

Genau. Gerade Bundesregierung und DB haben sich sehr lange gegen ERTMS gewehrt, weil sie erst kurz vor der Bahnreform ein neues Siche­rungs­system eingeführt hatten. Deshalb passiert es auch, dass Züge zwar ins Ausland fahren, an der Grenze aber die Lok gewechselt werden muss. Das kostet Zeit und Geld.

Das Umsteigen in Köln klappt ohne Pro­bleme. Durch die 15-minütige Verspätung verkürzt sich die Wartezeit am zugigen Bahnsteig. Cramer nimmt ab Köln den ICE und nicht den französischen Thalys, für den er noch ein extra Ticket kaufen müsste. Denn weder gilt im Thalys auf dem deutschen Teil der Strecke seine Bahncard 100 noch seine belgische Netz­karte ab der Grenze bis Brüssel. Einige Mitreisende sind ebenfalls Richtung Europaparlament unterwegs. Man begrüßt sich freundlich. Über die Bordlautsprecher erklärt der Zugbegleiter die vor uns liegende Fahrt ohne hörbaren Akzent in vier Sprachen: Deutsch, Französisch, Flämisch, Englisch. Die Ansage dauert ewig, aber man kommt sich gleich ein bisschen europäischer vor.

Wer ist zuständig, europäische Standards auf den Weg zu bringen?

In Deutschland ist das Eisenbahn-Bundesamt die oberste Institution. Werden Neubaustrecken mit Geld aus Brüssel gebaut, dann ist ERTMS verpflichtend, und dafür hat die Europäische Eisenbahnagentur (ERA) das letzte Wort.

Haben die nationalen Bahnen denn kein Interesse an Zusammenarbeit?

Die Unternehmen wehren sich vehement gegen Einflussnahme, möchten sich nicht in die Karten schauen lassen und fürchten um ihr lukratives Monopol. Sowohl Regierungen wie auch die Bahnbetreiber begreifen nicht, dass sie besser aufgestellt wären, wenn sie zusammenarbeiten würden.

Wo bleibt der einheitliche europäische Binnenmarkt auf der Schiene?

Wir haben uns im November im Europaparlament für das verpflichtende Durchgangsticket ausgesprochen. Denn versuchen Sie mal in Brüssel ein Ticket nach Ennepetal zu kaufen. Sie bekommen bestenfalls viele einzelne Tickets verkauft, aber kein Durchgangsticket, das die ganze Fahrt abdeckt. Dies schwächt die Fahrgastrechte, wenn sie unterwegs wegen Verspätungen liegenbleiben. Durchgangstickets gibt es nur zwischen den Metropolen. Ende letzten Jahres hat das Parlament daher endlich mit großer Mehrheit die Stärkung der Fahrgastrechte beschlossen. Es geht um eine einheitliche Entschädigungsregelung, um verbindliche Durchgangstickets und die Fahrradmitnahme in allen Zügen.

Die DB verspricht, Bahnreisen in Europa einfacher zu machen, und wirbt mit der Möglichkeit, Tickets online in die Nachbarländer buchen zu können – auch Sparpreise der Auslandsbahnen. Wir bleiben misstrauisch und machen ein paar Stichproben. Über den „Meine Bahn“-Account kann die DB die Buchungen nicht durchführen. Wir müssen zu www.international-bahn.de wechseln. Bei Anfragen für verschiedene Verbindungen von Berlin nach Paris – mehr Metropole geht nicht – haben wir an verschiedenen Tagen und mit unterschiedlichen Fahrtzeitanfragen keinen Erfolg. DB-Originalton: „Es tut uns leid, wir können die von Ihnen gewählte Verbindung online nicht verkaufen. Tickets für Ihre Verbindung erhalten Sie ggf. in einem DB Reisezentrum, in einem Reisebüro mit DB-Lizenz oder wenden Sie sich an die Servicenummer der DB.“

Und was machen die Nachtzüge, von denen viele grenzüberschreitend unterwegs waren? Die DB hatte den Betrieb eingestellt, weil sie angeblich nicht rentabel waren.

Im Bahnvorstand haben Nachtzüge keine Lobby. Absichtlich hat der Konzern deren Nutzerzahl kleingerechnet, um die Züge unwirtschaftlich dastehen zu lassen. Die Deutsche Bahn wollte nicht mehr investieren. 30 Jahre hat sie mit den Nachtverbindungen Geld verdient, aber keine Rücklagen für neue Züge gebildet.

Was versprechen sich die österreichischen Bahnen von der Übernahme des Nachtzuggeschäfts?

Seit die österreichischen Bundesbahnen die Nachtzüge übernommen haben, steigen die Fahrgastzahlen. Darüber freue ich mich außerordentlich, denn Nachtzüge sind eine sinnvolle Alternative zum Flugzeug und können Fahrgäste zurück auf die Schiene holen. Nur so können die Klimaziele erreicht werden. Seit Dezember fährt beispielsweise der traditionsreiche Nachtzug „Metropol“, der 2017 eingestellt wurde, wieder ab Berlin mit Waggons Richtung Wien, Budapest und Polen. Der Zug fährt über Breslau und braucht dafür vier Stunden fünfzehn Minuten – vor dem Krieg waren es nur zweieinhalb Stunden.

Warum ist er heute so langsam?

Der Zug fährt einen Umweg über Frankfurt (Oder). Der direkte Weg nach Breslau ist auf polnischer Seite vollständig elektrifiziert, auf deutscher Seite klafft hinter Cottbus aber weiterhin eine Elektrifizierungslücke von 50 Kilometern. Die Verantwortung dafür trägt die Bundesregierung. Während in Stuttgart Milliarden für die Halbierung der Bahnhofskapazität keine Rolle spielen, sind für diese Strecke 100 Millionen Euro für eine Elektrifizierung angeblich nicht vorhanden.

Warum enden viele Züge immer noch an der Grenze?

Kriegs- und Nachkriegszeit haben Wunden hinterlassen und auch mehr als drei Jahrzehnte nach dem Fall des Eisernen Vorhangs bleibt das europäische Eisenbahnnetz ein Flickenteppich. Die Lücken sind genau da, wo die Grenzen sind. Trotz milliardenschwerer Investitionen in die transeuropäischen Verkehrsnetze sind die Wunden nicht verheilt. Nach dem Krieg stand das Auto im Mittelpunkt, alle wollten das autogerechte Land. In die Bahn wurde 40 Jahre nicht wirklich investiert.

Sie haben gesagt: In der EU muss der Kontinent zusammenkommen. Was meinen Sie damit?

Wir haben in Deutschland 57 Schienenverbindungen in unsere Nachbarländer, davon sind weniger als die Hälfte elektrifiziert, mit den genannten Problemen. Und dann gibt es noch die richtigen Lücken, wie zum Beispiel die Eisenbahnbrücke über den Rhein von Freiburg nach Colmar in Frankreich. Sie wurde von deutschen Soldaten in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs zerstört und bis heute nicht wieder aufgebaut. Die parallel laufende Brücke für Autos ist natürlich längst wieder intakt. Zwischen Klewe und dem niederländischen Nijmegen klafft eine Lücke von 23 Kilometern. Hier wurde die Schienenverbindung zurückgebaut und durch eine Buslinie ersetzt. Von Bremen nach Groningen sieht es ähnlich aus. Bei all diesen Lücken tut sich erst jetzt wieder was, weil wir Grünen enormen Druck gemacht haben.

Sie haben das Programm „Die Lücke muss weg“ ins Leben gerufen. Was ist das?

Wir haben mehr als 250 Strecken untersucht, die ehemals grenzüberschreitend waren. Davon haben wir die fünfzehn wichtigsten ausgewählt. Sie sind über ganz Europa verteilt. Meist fehlen nur wenige Kilometer Bahnstrecke, aber die Menschen in den eng verzahnten Regionen würden enorm profitieren.

Was ist Ihre Forderung?

Wollen wir nur irrsinnige Großprojekte oder auch echte Lückenschlüsse, damit Europa zusammenwächst? Vor dieser Wahl steht die Europäische Union. Die Kommission muss ihre Investitionen stärker an die Realisierung grenzüberschreitender Lückenschlüsse koppeln. Bisher konzentriert sich die Verkehrspolitik auf Großprojekte für Straße, Schiene und Flughäfen. Die Mitgliedstaaten nehmen das europäische Geld für ihre nationalen Projekte. Diese dienen aber nicht dem europäischen Mehrwert. Die Baustellen blockieren mit Milliarden von Euro die öffentlichen Budgets. Wir fordern stattdessen – mit einem Bruchteil der Gelder – die vielen kleinen Lücken auf der Schiene zu schließen. Bei den Bahnen haben wir jetzt einen Durchbruch erreicht: Die Kommission hat entschieden, Mittel bereitzustellen. Im letzten Jahr waren das über 140 Millionen Euro. Das Programm soll weitergeführt werden. Dann – und nur dann – kann Europa auf der Schiene zusammenwachsen

Lückenschlüsse per Bahn

Die EU veröffentlichte 2018 eine Studie zum grenzüberschreitenden Bahnverkehr und dessen Lücken, den „Missing Links“. Daran mitgearbeitet hat unter anderem der Europäische Fahrgastverband EPF, dem auch der VCD angehört. Die Studie, die das ÖPNV-Beratungsunternehmen KCW aus Berlin erstellt hat, zeigt auf, wie Europa auf der Schiene zusammenwachsen kann. Der Flyer „Die Lücke muss weg“ von Michael Cramer zeigt die wichtigsten Lücken im europäischen Bahnnetz.

Mehr Fahrgastrechte

Bahnreisende sollen künftig deutlich höhere Entschädigungen bei verspäteten oder ausgefallenen Zügen bekommen. Die EU-Abgeordneten stimmten im November 2018 für entsprechende Vorschläge. Bahnunternehmen sollen bei Verspätungen von über einer Stunde die Hälfte des Ticketpreises zurückerstatten, drei Viertel bei mehr als eineinhalb Stunden und den kompletten Reisepreis bei mehr als zwei Stunden Verspätung. Bislang zahlt die DB maximal die Hälfte des Preises zurück. Bevor die neuen EU-Regeln in Kraft treten können, müssen die Abgeordneten des Parlaments einen Kompromiss mit dem Rat der Mitgliedstaaten aushandeln.

ist Chefin vom Dienst bei der fairkehr.

Uta.Linnert@fairkehr.de

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