VCD Seminarreihe

Mit Verkehrsexperimenten die Verkehrswende erproben

Wir blicken zurück auf unsere Seminarreihe zum Thema Verkehrsexperimente: Was ist ein Verkehrsversuch, welche guten Beispiele gibt es und wie kann man durch gute Beteiligung die Menschen begeistern?

| für Testzwecke

Die Online-Seminarreihe des Projekts »Straßen für Menschen« rund um das Thema Verkehrsexperimente ist vorbei und wir haben viel gelernt. An fünf Terminen im November und Dezember gab es Inputs, Diskussionen und Best-Practice-Beispiele zu den unterschiedlichsten Themen aus dem Bereich Verkehrsexperimente.

Öffentlicher Raum ist eine knappe Ressource. Im Moment nimmt das Auto dabei den allergrößten Platz ein. Doch das muss nicht so bleiben – wenn wir uns auf Experimente einlassen, wie eine Umgestaltung des Verkehrs und des öffentlichen Raums aussehen könnte, eröffnet das neue Perspektiven, wie unsere Straßen zukünftig aussehen könnten.

Dafür gibt es bereits viele gute Ideen und Konzepte. Von Kiezblocks, Begegnungszonen, Shared Spaces und Pop-up Radwegen über Tempo30-Zonen, Spielstraßen und Flaniermeilen bis hin zur Umwidmung einzelner Parkplätze – die Bandbreite von Möglichkeiten ist groß und einige davon haben wir uns im Rahmen einer Seminarreihe näher angeschaut.

Rechtliche Grundlage: Der Verkehrsversuch

Man hört und liest immer häufiger von sogenannten Verkehrsversuchen. Viele Städte probieren im Rahmen solcher Versuche aus, wie der öffentliche Raum zumindest temporär so umgestaltet werden kann, dass es Platz für Menschen und aktive Mobilität wie den Rad- und Fußverkehr bietet und nicht vor allem für Autos.

Die rechtliche Grundlage für solche Verkehrsversuche, wie uns Rechtsanwalt Olaf Dilling im ersten Seminar erläuterte, ist die Erprobungsklausel in §45 der Straßenverkehrsordnung (StVO):

„Die Straßenverkehrsbehörden können die Benutzung bestimmter Straßen oder Straßenstrecken aus Gründen der Sicherheit oder Ordnung des Verkehrs beschränken oder verbieten und den Verkehr umleiten […] zur Erforschung des Unfallgeschehens, des Verkehrsverhaltens, der Verkehrsabläufe sowie zur Erprobung geplanter verkehrssichernder oder verkehrsregelnder Maßnahmen.“

Seit der Novellierung der StVO in 2020 braucht es dafür auch keinen Nachweis einer Gefahrenlage mehr. Voraussetzung für einen solchen Verkehrsversuch ist eine sorgfältige Bestandsaufnahme und Bewertung des Status Quo, also der verkehrlichen Situation vor dem Verkehrsversuch, eine wissenschaftliche Begleitung sowie eine Evaluierung und Auswertung im Nachhinein.

Es gibt zahlreiche Beispiele für Verkehrsversuche. Zwei prominente Beispiele sind die Friedrichstraße in Berlin und Ottensen macht Platz in Hamburg. Ottensen macht Platz wurde sogar mit dem Verkehrsplanungspreis 2020 ausgezeichnet. Der Verkehrsversuch wurde trotzdem vorzeitig abgebrochen aufgrund einer Klage vor dem Hamburger Verwaltungsgericht. Die Auswertung der autofreien Friedrichstraße zeigt, dass der Verkehrsversuch erfolgreich war: der Autoverkehr wurde nicht einfach in umliegende Straßen verlagert, sondern insgesamt reduziert; es gab mehr Platz für den Radverkehr und höhere Fußgänger*innenzahlen. Trotzdem wurde gegen die autofreie Friedrichstraße geklagt, und es fahren dort heute zumindest zeitweise bis zur geplanten Umwidmung zur Fußgängerzone wieder Autos.  

Beide Beispiele zeigen, wie wichtig es ist, Verkehrsversuche rechtssicher zu begründen – auch wenn das durch die Novelle der StVO einfacher geworden ist. Wie die Friedrichstraße zeigt, muss zudem ein rechtssicherer Übergang von einem Verkehrsversuch zur dauerhaften Umwidmung geschaffen werden.

Erst mal ausprobieren: Realexperimente zur Umgestaltung des Straßenraums

Einige weitere Beispiele für Verkehrsversuche haben wir uns im Rahmen der Seminarreihe angeschaut. Julia Jarass berichtete von zwei Realexperimenten in Berlin. Im QuartierKlausener Platz in Charlottenburg wurde ein weiterer kleinerer Stadtplatz  im Oktober 2020 für einen Monat umgestaltet, die Barbarossastraße in Schöneberg im August 2021 zur Sommerstraße. Während der Realexperimente wurden eine Reihe von Maßnahmen erprobt, von der Baumscheibenbegrünung, dem Bau von Sitzgelegenheiten über Nachbarschaftsfeste und Flohmärkte bis zu Dialogveranstaltungen mit dem Stadtrat.

Wie die Erprobungsklausel vorsieht, wurden die Experimente durch Verkehrszählungen, Haushalts- und Passantenbefragungen und Interviews mit Gewerbetreibenden wissenschaftlich begleitet und ausgewertet. Die Auswertung zeigt, welches Potenzial Verkehrsexperimente haben, um Prozesse der Verkehrswende und Flächenumverteilung zu verstehen und anzustoßen. Sie zeigt aber auch, dass eine Transformation des öffentlichen Raums kontrovers ist. Die Hauptsorgen dabei sind beispielsweise Freizeitlärm und fehlende Parkplätze. Um solche Sorgen und unterschiedliche Perspektiven gut aufzufangen, ist eine zielgruppengerechte Gestaltung zentral, die auf die unterschiedlichen Bedürfnisse der Menschen eingeht.

Kieze ohne Durchgangsverkehr: Dauerhafte Umgestaltung durch Kiezblocks

Idealerweise werden die Erkenntnisse, die in Verkehrsexperimenten gewonnen werden, für eine dauerhafte Umgestaltung des Straßenraums genutzt. Ein Beispiel für eine solche Umgestaltung sind Kiezblocks, bei denen in einem definierten Bereich die Menschen und dem Rad- und Fußverkehr Priorität vor dem motorisierten Individualverkehr eingeräumt wird und in dem Durchgangsverkehr vermieden werden soll. Ziel eines solchen Kiezblocks ist die Kfz-Verkehrsverringerung durch attraktive Fuß- und Radverbindungen und einen attraktiven ÖPNV, sowie eine verträgliche Verkehrsgestaltung durch geschützte Radwege, Kfz-befreite Grünphasen für Fuß- und Radverkehr und ampelgesicherte Fuß- und Radüberwege.

Vorreiter der Kiezblocks ist Barcelona, wo bereits 1993 der erste Superblock umgesetzt wurde und das seitdem zum Vorbild für viele europäische Städte geworden ist. Zwei Beispiele aus Deutschland haben uns Dirk von Schneidemesser aus Berlin und Michael Dettmer aus Hamburg vorgestellt. Die Erfahrung wird durch wissenschaftliche Untersuchungen bestätigt: durch den ausgesperrten Durchgangsverkehr verbessert sich die Verkehrssicherheit im Kiezblock, der Verkehr wird nicht einfach in umliegende Straßen verlagert sondern verringert sich tatsächlich (Stichwort: Verkehrsverpuffung), die Sorge vor negativen Auswirkungen auf das Durchkommen von Rettungsdiensten ist unbegründet und auch der Einzelhandel profitiert von mehr Fußgänger*innen.

Die Menschen mitnehmen: durch Bürgerbeteiligung die Akzeptanz steigern  

Zentraler Aspekt und Voraussetzung für den Erfolg von temporären und dauerhaften Umgestaltungen des Straßenraums ist die Akzeptanz der Menschen, die dort leben oder den Raum nutzen. Das zeigt die Auswertung der Begleitforschung der Realexperimente und wird bestätigt von Katharina Götting und Matthias Trénel, die im Seminar zum Thema Bürgerbeteiligung die Faktoren für erfolgreiche Partizipationsprozesse erläutert haben.

Die Verkehrswende ist ein emotionales Thema, daher ist für die Akzeptanz von Maßnahmen der Umgang mit Emotionen wichtig. Das bedeutet zum einen, die Umgestaltung des Straßenraums für Menschen mit positiven Emotionen zu belegen und gemeinsam Visionen zu entwickeln, und zum anderen, auch negative Emotionen sichtbar zu machen und zu begegnen. Hier können Verkehrsexperimente helfen: eine Umgestaltung auf Zeit, bei der erst einmal ausprobiert wird, wie es denn ohne Durchgangsverkehr und mit mehr Platz zum zu-Fuß-Gehen wäre, ist weniger bedrohlich und kann zu mehr Offenheit gegenüber neuen Möglichkeiten beitragen.

Damit die Menschen, die von einer Umgestaltung des öffentlichen Raums betroffen sind, diese Umgestaltung auch mittragen, ist ihre Beteiligung am Prozess zentral. Matthias Trénel identifiziert dabei folgende Erfolgsfaktoren für Bürgerbeteiligung in Verkehrsexperimenten:

  • Akteure identifizieren
  • (Spur) Gruppe gründen, um Akteure in die Planung und Auswertung der Beteiligung einzubeziehen
  • Breite, lokal fokussierte Bekanntmachung
  • Öffentliche Interventionen, um zukünftigen Zustand erlebbar zu machen
  • Vielfältige Beteiligungsformate passend zu Zielgruppen
  • Konfliktlösungsmechanismen entwickeln
  • Befragung der Bevölkerung
  • Kontinuierliche Kommunikation bis zur Umsetzung

Verkehrsexperimente größer denken: Stadt-Umland-Mobilität mitdenken

Damit der Durchgangsverkehr, den wir aus unserem Wohnumfeld verbannen wollen, nicht einfach nur verdrängt und umgeleitet wird, müssen wir uns auch anschauen, warum die Menschen mit dem Auto unterwegs sind. Ein häufiger Grund ist der Weg zur Arbeit, und gerade für diejenigen, die nicht in den Innenstädten wohnen, ist dieser Weg oft lang und häufig beschwerlich, und er wird vielfach mit dem eigenen Pkw zurückgelegt. Für autoärmere Innenstädte muss also auch die Stadt-Umland-Mobilität betrachtet werden.

Wir haben uns deshalb auch ein etwas anderes Verkehrsexperiment angeschaut. Luca Nitschke berichtete aus dem laufenden Projekt PendelLabor, das im Frankfurt a.M. und dem Umland erprobt, wie Pendelpraktiken verändert werden können und was Menschen brauchen, um vom eigenen Auto auf alternative Möglichkeiten umzusteigen.

Eine individuelle Mobilitätsberatung kann bewirken, dass Menschen ganz neue Wege und Mittel entdecken, wie sie abseits vom eigenen Auto ihre Wege zurücklegen können,wie gut die aktive Mobilität mit dem (E-)Bike tut oder wie viel Lesezeit man auf einer Bahnfahrt gewinnt. Auch hier senkt der Experimentiercharakter die Hemmschwelle, man muss das eigene Auto nicht gleich abschaffen, sondern kann neue Dinge ausprobieren. Dass das E-Bike und das ÖPNV-Ticket im Rahmen des Experiments zur Verfügung gestellt wurden, hat hier also ein Ausprobieren ganz neuer Erfahrungen ermöglicht.

Vom Verkehrsexperiment zur Verkehrswende

Verkehrsexperimente bieten die Möglichkeit, Neues auszuprobieren, zu evaluieren und aus den Erfahrungen zu lernen. Was man aber weder während der Laufzeit eines Verkehrsversuchs, einer temporären Umgestaltung zur Begegnungszone, noch eines Pendelexperiments umsetzen kann, ist die Schaffung von guten Alternativen. Dabei sind sie zentral für den Erfolg von Verkehrsexperimenten und der Verkehrswende insgesamt: Der Umbau der Infrastruktur, bessere Fuß- und Radwege, ein gut ausgebauter ÖPNV, der Ausbau von Schienenstrecken und barrierefreie Bahnhöfe und Wege zur Haltestelle – das kann schwer in temporären Experimenten geschaffen werden, beeinflusst aber, ob eine Einschränkung des Autoverkehrs akzeptiert und angenommen wird.

Damit alle Menschen unabhängig von körperlichen, psychischen, finanziellen und räumlichen Voraussetzungen selbstbestimmt und klimafreundlich mobil sein können, braucht es ein attraktives und barrierefreies Grundangebot öffentlicher Mobilitätsdienstleistungen. Der VCD fordert daher eine bundesweite Mobilitätsgarantie


Mit dieser digitalen Seminarreihe vom Projekt »Straßen für Menschen« möchten wir das bürgerschaftliche Engagement für die Verkehrswende unterstützen. Das Projekt wird von PHINEO im Rahmen der Initiative Mobilitätskultur und die Seminarreihe wird zudem von der GLS Treuhand gefördert.

Die Aufzeichnungen der Seminare stehen hier zum Nachschauen zur Verfügung.

Kontakt

Katharina Klaas

Projektbearbeiterin "Verkehrswende: klimaverträglich und sozial gerecht"

& "Straßen für Menschen"

katharina.klaas@vcd.org

Tanja Terruli

Projektleitung “Straßen für Menschen”
Fon 030/28 03 51-37
tanja.terruli@vcd.org

zurück

Cookie-Einstellungen ändern