Grüne Städte | VCD-Magazin 4/2024

Raus aus dem Asphalt - Mehr Bäume für Wien!

Wien setzt eine groß angelegte Radoffensive um. Das Ziel: mehr Platz für klimafreundliche Mobilität – und mehr Bäume. Eine Testfahrt.

| Klimafreundliche Mobilität Luftreinhaltung Radverkehr Verkehrspolitik Wohnen und Mobilität fairkehr-Magazin 04/2024

Im neuen Glanz erstrahlt der Praterstern. Stadträtin Ulli Sima zeigt ihren Gästen den neu gestalteten Platz im zweiten Wiener Bezirk, knappe 15 Fahrradminuten von ihrem Dienstsitz im Rathaus entfernt. „Aus dem versiegelten Platz an diesem Verkehrsknotenpunkt mit über 150?000 Fahrgästen am Tag haben wir eine klimafitte Aufenthaltsoase gemacht“, sagt die 54-jährige Stadträtin der SPÖ für Innovation, Stadtplanung und Mobilität stolz. „Heute wachsen hier 101 Bäume, 50 haben wir neu gepflanzt, davon 13 sogenannte XL-Platanen. Sie wurden mit viel Weitsicht vor 25 oder sogar 30 Jahren in einer Baumschule extra für solche Zwecke herangezogen und sind hier prächtig angewachsen.“  

Tatsächlich sehen die Platanen aus, als stünden sie schon immer hier. Im Schatten ihrer Blätterdächer wird auf runden Sitzbänken gelesen und telefoniert. Die Grünfläche hat die Stadt auf 8?000 Quadratmeter nahezu verdoppelt. Das Gras und die Stauden sollen zusammen mit dem größten Wasserspiel Wiens einer Überhitzung entgegenwirken. Vor dem Umbau war der Platz Treffpunkt der Drogenszene mit angeschlossener Polizeistation. Heute ist in den ehemaligen Zweckbau der Schutzleute ein Café eingezogen, auf dessen Terrasse Eltern ihren Kindern beim Spielen zuschauen und sich Businessleute zum Imbiss verabreden.

Die Stadtverwaltung hat nach Wien eingeladen, um Journalist*innen aus Deutschland zu zeigen, wie die „große Radwegoffensive“ aussieht und wie sich die Stadt für die Folgen der Erderwärmung rüstet. Dafür geht’s auf Radtour durch die Wiener Bezirke. Radverkehrsbeauftragter Martin Blum radelt mit Stadträtin Sima voran. „Wir sind hier auf dem Herzstück des sieben Kilometer langen Mega-Rad-Highways“, stellt Blum selbstbewusst den neuen, 4,50 Meter breiten Fahrradweg entlang der umgebauten Praterstaße vor. Die frisch grün eingefärbte Radfahrbahn führt als Zweirichtungsweg aus dem Zentrum über den Donaukanal hinaus in die Donaustadt, wo viele neu zugezogene Menschen wohnen und arbeiten. „Um Platz zu schaffen, haben wir der Praterstraße stadtauswärts einen Autofahrstreifen weggenommen“, erklärt Sima die Vorgehensweise. Der Straße scheint es gutgetan zu haben: Viele Menschen sind zu Fuß unterwegs, kleine Läden sieht man hier, Restaurants und Bars mit Außenbestuhlung, Hotels, eine Apotheke, eine Moschee – alles vielfältig, lebendig und grün. 

Die Bäume machen den Unterschied

Das Besondere an den Wiener Radwegprojekten: Jeder neue Weg, jede Umgestaltung der Straße wird verknüpft mit zusätzlicher Begrünung. „Allein auf den 800 Metern vom Donaukanal über die Praterstraße pflanzen wir 50 neue Bäume“, sagt Blum. Damit sie gut gedeihen, hängen die Bäume an einem im Boden verlegten Bewässerungssystem. Zusätzlich lockern Beete mit langen Gräsern und robusten Stauden den Asphalt auf, auf dem Gehweg laden Holzbänke und montierte Stuhlgruppen zur Rast ein. „Wir schauen immer auch auf die Fußgänger“, sagt Blum, „die Stadt wird lebenswerter für alle. Wien ist nach Berlin die zweitgrößte deutschsprachige Stadt, sie wächst rasant“, sagt er. Allein in den letzten 30 Jahren seien 500?000 Menschen neu zugezogen. Dazu kommen immer öfter Rekordsommer mit extremer Hitze. „Wir brauchen mehr Grünflächen, Bäume und Sträucher entlang unserer Stadtstraßen, die Schatten spenden und die Umgebungsluft kühlen. Nur in solchen Straßen können die Menschen bei großer Hitze unterwegs sein.“ 

Martin Blum leitet die Mobilitätsagentur Wien, die der Stadt die Öffentlichkeitsarbeit der Radoffensive abnimmt. Seit zwölf Jahren unterstützen der heute 48-Jährige und sein Team das Verkehrsressort im Rathaus mit Ideen und Kampagnen. „Wir erleben gerade das größte Radwegebauprojekt in der Geschichte der Stadt. Wir bauen so viel und so hochwertige Infrastruktur wie noch nie“, sagt er. Blum, der vorher als Verkehrsreferent beim VCD-Schwesterclub VCÖ tätig war, kann jetzt umsetzen, was er seinerzeit gefordert hatte: mehr Platz fürs Rad, für Fußgänger, sichere Wege für Kinder. 

Raus aus dem Asphalt“ heißt das übergeordnete Projekt, für das die Stadt Wien die Fördertöpfe gut gefüllt hat. In der fünfjährigen Legislaturperiode, die im Jahr 2020 begann, stehen für den Umbau in eine „Lebenswerte Klimamusterstadt” 100 Millionen Euro zur Verfügung. Weitere 100 Millionen stellt die SPÖ-NEOS-Fortschrittskoalition für den Ausbau des Fahrradnetzes bereit. Allein im vergangenen Jahr hat sie 35 Millionen Euro investiert und davon 20 Kilometer neue Radwege gebaut, in 53 Projekten. Kurzer Zahlenvergleich: Berlin hat im selben Zeitraum nur 4,2 Millionen für den Radverkehr ausgegeben, denn das Berliner Verkehrsressort hatte gleich nach der Übernahme durch die CDU einen Bau- und Planungsstopp für den Radverkehr erlassen.

Sicher durch das Gewusel

Weiter geht es durch die Straßen von Wien. Die ortskundigen Guides Blum und Sima lotsen die Radgruppe auf rasanter Fahrt zurück in die Innenstadt. Wir erfahren, dass noch längst nicht alle Radwege in gutem Zustand sind. Wir radeln im Slalom durch das Gewusel der Wiener Hofburg. Darf man hier fahren? Tatsächlich! Wir überholen Fiaker – die großen Pferdekutschen –, behaupten uns gegenüber Taxis und Touristenbussen, schlängeln uns in Einbahnstraßen gegen die Fahrtrichtung durch den Autoverkehr, biegen an roten Ampeln ab – es ist fast überall per Verkehrszeichen erlaubt, aber ungewohnt. Die City ist eng, die Radwege sind es ebenfalls, die Kreuzungen unübersichtlich, Wege holprig. Schon am Vortag hatten wir mit Leihrädern eine Rundfahrt gemacht und uns im Stadtverkehr unsicher und verloren gefühlt oder waren in Baustellen gestrandet. 

Die Wiener U-Bahn bekommt eine neue Linie, was zu riesengroßen Baggerlöchern führt. Auch die Baustellen für den Radverkehr zwingen zu Umwegen. Da tut es gut, dass Martin Blum aus voller Überzeugung sagen kann: „Radfahren in Wien ist eine sehr sichere Fortbewegungsart.“ Wir können es kaum glauben. „Wir haben jetzt zwei Jahre nacheinander ohne tödliche Unfälle“, versichert Blum. Noch mal ein Berlin-Vergleich: Im Jahr 2023 sind im Berliner Straßenverkehr 7?032 Fahrradfahrer*innen verunglückt, 12 von ihnen starben infolge der Unfälle.
 

Wien möchte Radfahrhauptstadt werden und irgendwann auf einer Stufe mit Kopenhagen und Utrecht stehen. Dahin ist es noch ein gutes Stück, aber Martin Blum rechnet vor: „Der Radverkehr in Wien hat sich innerhalb von zehn Jahren verdoppelt.“ Er liegt heute bei etwa zehn Prozent an den Verkehrswegen – das ist im europäischen Vergleich noch bescheiden. „Als ich vor 20 Jahren zum Studieren aus der Steiermark hierher kam, fuhr so gut wie niemand Rad, die wenigen Radler kannten und grüßten sich. Wien ist traditionell eine Öffi- und Fußgängerstadt“, sagt der passionierte Radfahrer. Nahverkehr und Fußgänger liegen in Wien gleichauf bei etwa 32 Prozent im Modal Split, der Anteil der Autos schrumpfte seit 1993 von 40 auf heute 26 Prozent. Auf 1?000 Einwohner kommen heute nur 356 Autos – das ist im Städtevergleich wenig, und die Zahlen sind weiter rückläufig.

Umgebaute Straßen in Wien: Kühl, ruhig, angenehm

Nächster Fahrradstopp Pfeilgasse, eine Wohnstraße in der Josefstadt, etwa zehn flotte Fahrradminuten von der Hofburg entfernt. „Das war hier mal ein Parkplatz, jetzt Teil einer klimafitten Fahrradstraße“, sagt Blum. Wo früher Lehrer*innen ihre Autos abstellten, sprießen Stauden und Gräser in umzäunten Beeten. Schon 2022 wurde dieser Platz in der Gasse umgestaltet, 30 neue Bäume gepflanzt, Sitzmöbel für ein grünes Klassenzimmer aufgestellt, der Boden entsiegelt und mit hellen Betonsteinen gegen übermäßiges Aufheizen gepflastert. Springbrunnen und eine Nebelstele kühlen den Platz. Die neuen Grünflächen wurden nach dem sogenannten Schwammstadt-Prinzip angelegt: Niederschläge sowie das Frischwasser des Wasserspiels fließen in einen unterirdischen Speicher und versorgen die Bäume mit Wasser. 

„Wie ist dieser Umbau möglich, Frau Sima? Wie erreichen Sie Akzeptanz?“ Die deutschen Journalist*innen stellen Fragen. Wenn in Deutschland Fahrspuren für Radwege oder Parkplätze wegfallen sollen, gehen Anwohner und Anwohnerinnen auf die Barrikaden. Wie geht Wien mit Menschen um, die Einwände haben? „Es gibt sie nicht“, sagt die Stadträtin für Verkehr ganz cool. Bürgerinitiativen gegen Radprojekte gebe es keine, versichert Sima. „Für die Akzeptanz ist es wichtig, dass wir uns nicht nur um eine Verkehrsart kümmern, die erst einen Anteil von zehn Prozent hat. Nicht jeder in Wien will Rad fahren, aber bei Hitze im Schatten unter Bäumen sitzen, will eigentlich jeder. Mehr Grün zu schaffen, steht bei uns an erster Stelle.“ Wichtig ist ihr auch: Die neuen Bäume sollen möglichst groß sein, direkt sichtbar. Erst kürzlich war Sima in der Baumschule Lorberg bei Berlin, um 400 Silberlinden zu kaufen, die 25 Jahre und älter sind. 

Und das Geld dafür ist auch da? Über diese Frage kann die Stadträtin nur lachen: „Wenn wir demnächst den Naschmarkt-Parkplatz von einer trostlosten Betonfläche aus den 70er-Jahren zu einer grünen Oase ohne Autos, mit Freiraum, Sitzplätzen und Wasserspielen umbauen, auf dem man sich gerne aufhält, dann kostet das leicht 20 Millionen. Da kommt es auf den Preis für die Bäume nicht mehr an – aber die Bäume machen den entscheidenden Unterschied.“  

Stadträtin Simas Motto: Geredet. Geplant. Gemacht!

Als letztes Leuchtturmprojekt zeigen Sima und Blum die Argentinierstraße, eine wichtige Verbindung für den Radverkehr vom Hauptbahnhof in die Innenstadt. Hier sind noch die Bagger am Werk, aber der obere Abschnitt ist schon als Fahrradstraße nach niederländischem Vorbild fertiggestellt. „Wir machen nichts gegen die Bürgerinnen und Bürger in den Bezirken“, sagt Sima beim Stopp auf dem rot eingefärbten Belag mit den großen Fahrradpiktogrammen, an dem mal rechts, mal links neue Bäume in großen Blumenbeeten stehen, wo vorher Parkplätze waren. Manchmal steckt noch ein Schild mit Foto als Platzhalter im Beet, das die baldige Pflanzung eines Baumes ankündigt. „Wer weiß, was passiert, akzeptiert die Baustellen und Wartezeiten besser. Positive Kommunikation ist uns wichtig”, sagt Sima. 

„Obwohl in Österreich für Projekte dieser Art keine Bürgerbeteiligung vorgeschrieben ist, binden wir die Anrainer*innen von Anfang an in den Prozess ein“, erklärt Martin Blum. Die Ergebnisse der Befragung im Grätzl – so heißen die Wiener Viertel – war eindeutig: Auf Platz eins in der Prioritätenliste setzten die Anwohner*innen „Begrünung, Abkühlung, weniger Asphalt.“ An zweiter Stelle stimmten sie gleichrangig für „Verkehrsberuhigung, weniger Durchzugsverkehr“ sowie „Mehr Platz für das Gehen, breitere Gehsteige, bessere Sicht, Bankerln zum Verweilen“. Die Option „Möglichst viele Stellplätze für Pkw“ landete abgeschlagen bei 16 Prozent der Nennungen in der Rangliste ganz unten.

Besonders schön ist der Platz rund um Sankt Elisabeth geworden, den wir auf einer breiten roten Fahrradstraße umrunden, weil die Kirche die Argentinierstraße in zwei Abschnitte teilt. Die Stadt hat die Autos komplett aus der Seitengasse verbannt. Stattdessen schaukeln hier Kinder, sitzen Menschen auf Bänken, blüht und grünt es in den Beeten. Blum und Sima wundern sich selbst, wie schnell die Wiener*innen den Platz erobert haben. 

Kopfschütteln über Deutschland

In Deutschland – nehmen wir diesmal das Beispiel Bonn – konnte ein einzelner Kläger, dem es vorwiegend um den öffentlichen Parkplatz für sein privates Auto ging, den Bau aller Fahrradstraßen per Eilantrag zu Fall bringen. Es fehlten Verkehrsgutachten und rechtssichere Begründungen. Weil sich die Stadt im Wirrwarr des Planungsrechts mehrerer Fachbereiche und Dezernate verhedderte, stoppte sie die Umsetzung von jahrelang geplanten 20 Kilometer Fahrradstraßen vorerst ganz. Die Wiener Planer und die Senatorin schütteln darüber den Kopf. In diesem Frühjahr haben sie in Berlin bei einem Arbeitsbesuch den Kampf und das Chaos um die für Autos gesperrte und dann von der neuen Stadtregierung wieder geöffnete Friedrichstraße erlebt. „Die Kolleginnen und Kollegen dort können einem einfach nur leidtun“, sagt Sima. Beschwerden bei Gericht, so hören wir, gebe es in Wien keine. Denn in Österreich sei der Klageweg bei Bauvorhaben ohne Umweltverträglichkeitsprüfung ausgeschlossen – was auf den Radwegebau in der Stadt zutrifft. Felix Austria!

„Wir drücken jetzt aufs Tempo“, sagt Sima. Wenn eine graue Straße einmal grün, bunt und belebt sei, überzeuge das auch die Kaufleute, bei denen ebenfalls ein Umdenken eingesetzt habe. Kritik an der Argentinierstraße gibt es trotzdem. Die Wiener Wochenzeitung Falter schrieb von Durcheinander und Staus, hier und auf der Parallelstraße. „Ja, hier fahren noch Autos durch, das dürfen sie auch.“  Sima schaut sich um. „Noch ist die Straße nicht fertig, deshalb können wir nicht endgültig sagen, wie es funktioniert. Sonst steuern wir nach.“ Sie sieht es locker. „Hier wie überall legen wir den Fokus auf das, was sich die Leute gewünscht haben, was sie bekommen – und nicht auf das, was wir ihnen wegnehmen“.  

Mit fröhlicher Entschlossenheit schickt sich Verkehrsstadträtin Ulli Sima an, die österreichische Anne Hildalgo zu werden. Wie die Bürgermeisterin von Paris will sie ihre Stadt lebenswerter machen. Sie will zeigen, dass auch Metropolen mit starkem Wachstum Klimaanpassung und Verkehrswende umsetzen können. Im Herbst 2025 wird die Stadtregierung in Wien neu gewählt. 

Autorin

Uta Linnert ist Chefredakteurin des VCD-Magazins fairkehr. Seit vielen Jahren schreibt sie über die nachhaltige Verkehrswende. Sie arbeitet bei der fairkehr Agentur in Bonn.

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