Rollstuhl

Mobilitätsgarantie

Hindernisparkour im Rollstuhl

Mit dem Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention 2009 haben sich die Rahmenbedingungen für die Mobilität von Menschen mit Behinderung deutlich verbessert – in der Theorie, denn die Praxis sieht oft anders aus, wie ein Tag mit Joachim Marx zeigt.

| ÖPNV Soziale Aspekte der Verkehrswende

Für Joachim Marx sind wir von einer Mobilitätsgarantie ganz weit entfernt. „Ich erlebe unsere Welt als mobilitätsfeindlich“, sagt der 51-jährige Bonner. Er ist auf Bus und Bahn angewiesen, denn er sitzt im Rollstuhl und ist nicht in der Lage, selbst Auto zu fahren. Marx liebt frische Luft, liebt die Natur. In seiner Wohnung rumzusitzen ist keine Option für ihn. Deswegen ist er viel draußen, ist unterwegs, fast jeden Tag. Seine Terrasse ist ein botanisches Kleinod. Unter einer Pergola stehen unzählige Pflanzen. Bromelien und Hostas mag Marx besonders. Auf ein Exemplar ist Marx besonders stolz, denn es ist eine noch unbeschriebene Art. Er hat sie aus Guatemala mitgebracht.

Auch wenn Marx von seinen schönsten Mobilitätserlebnissen erzählt, schweift er in die Ferne: „Als ich mich mit dem Swiss Trac durch den Bergnebelwald Guatemalas gearbeitet habe, das war schon ziemlich cool“, erzählt er. Der Swiss Trac, das ist eine batteriebetriebene Zugmaschine, die Marx vor seinen Rollstuhl spannen kann. Und er erzählt vom Fliegen. Als er nach Peru geflogen ist, waren die Anden so dicht unter dem Flugzeug, dass er die Lama-Herden sehen konnte und dachte, das Flugzeug streift gleich die Berggipfel. Wenn man diesen Erzählungen lauscht, gewinnt man den Eindruck, Marx sei in seiner Mobilität kaum eingeschränkt.

Doch Marx‘ Alltag hält unzählige Herausforderungen parat. Heute will er in Bonn mit der Straßenbahnlinie 62 zum Hauptbahnhof und von dort weiter nach Tannenbusch fahren. Dort sitzt die Behinderten-Gemeinschaft Bonn e.V., für die Marx ehrenamtlich als Koordinator Barrierefreiheit, ÖPNV und Touristik tätig ist.

In die Behinderten-Gemeinschaft hat die Stadt Bonn ihre Inklusionsarbeit ausgegliedert – eine bundesweit einzigartige Konstellation. Finanziell bekommt der Verein einen Zuschuss von der Stadt, einige Mitarbeiter*innen sind direkt bei der Stadt angestellt. Statt Irgendjemand in der Verwaltung, kümmern sich nun Experten wie Marx engagiert und leidenschaftlich um die Belange der Menschen mit Behinderung. Marx gibt offen zu, dass er dabei durchaus egoistisch motiviert ist. „Ich habe ein Problem, von A nach B zu kommen. Also tue ich aktiv etwas, was es mir zukünftig ermöglicht und erleichtert“, sagt er. Profitieren tun davon am Ende alle.

Marx‘ Blick ist daher der eines Betroffenen und der eines Fachmanns gleichermaßen. Im Grunde wird wahrscheinlich jeder Rollstuhlnutzer zwangsläufig zum Experten, zur Expertin – ob er oder sie will oder nicht. Denn wer im Rollstuhl unterwegs ist, merkt sofort, dass einen der leicht abfallende Bürgersteig unweigerlich zur Fahrbahn hinzieht. Gegensteuern! Ein Umzugsteam hat den Bürgersteig blockiert. Ein Ohrensessel rechts, ein Couchtisch links. „Passt das?“, fragt der Umzugshelfer, als Marx dazwischen durchzirkelt. „Passt das?“ oder „geht das?“ wird Marx am Abend rund zwanzigmal gehört haben. Es nervt ihn unbändig, denn er hat dadurch das Gefühl, dass er dafür verantwortlich ist, ob es passt oder nicht.

Alltag im ÖPNV

In drei Minuten kommt die nächste Bahn, liest Marx auf der digitalen Anzeige an der Haltestelle. Er berührt dennoch den Sensor des akustischen Fahrgastinformationssystems, der Sehbehinderten und Blinden die gleiche Information vorspricht. Marx feiert die barrierefreie Haltestelle Eduard-Otto-Straße. Sie ist eine von offiziell 471 barrierefreien Haltestellen in Bonn. Von insgesamt 1078.

Lange währt die Freude über die Barrierefreiheit nicht. Die Bahn kommt. Marx wirft einen schnellen Blick auf die Stufe. 12,5 Zentimeter. Er kann die Höhe von Stufen auf einen halben Zentimeter genau erkennen. Die Erfahrung macht‘s. 12,5 Zentimeter sind zu hoch. Sein Elektrorollstuhl hat nur sieben Zentimeter Bodenfreiheit. Marx kann nicht mitfahren. Wäre die Bahn voll besetzt gewesen, hätte sie tiefer gelegen. Dann hätte es vielleicht gereicht. Aber sie ist nahezu leer. Marx winkt dem Fahrer weiterzufahren, wartet auf die nächste Bahn. Er bleibt gelassen. Die nächste Bahn ist auch leer. Aber sie hat ältere und dadurch deutlich abgefahrenere Räder. Damit liegt sie ein paar Zentimeter tiefer. Tief genug.

Marx will auch seine Mitmenschen motivieren und ihnen zeigen, dass Rollstuhlfahren und ÖPNV zwar leider nicht immer einfach sind, aber keinesfalls unmöglich. Sowohl Kindern als auch Erwachsenen bietet er über die Behinderten-Gemeinschaft Schulungen an. „Allgemeine Nutzung und Umgang des Rollstuhls“ oder „ÖPNV-Nutzung für Kinder/Jugendlichen mit Rollstuhl“ heißen die. Denn: Während Marx sich gekonnt und souverän im öffentlichen Raum bewegt, ist das längst nicht bei jeder und jedem Rollstuhlnutzer*in so.

Am Hauptbahnhof muss Marx von der Linie 62 in die Stadtbahn 16 umsteigen. Der einzige Aufzug ist heute leidlich geputzt. Vor zwei Tagen war er noch voll Urin, Kot und Erbrochenem. Auch da musste Marx ihn benutzen. Eine Alternative gibt es für ihn nicht. Dass er unter dem Vandalismus leidet, ist für Marx Alltag. Die Ignoranz der Gesellschaft sei sein größtes Alltagsproblem, sagt er. Während EU-Verordnungen zunehmend für ein Mindestmaß an infrastruktureller Barrierefreiheit sorgten, sei der Mobilitätsalltag von beeinträchtigten Personen geprägt von zugeparkten Gehwegen, von auf Behindertenparkplätzen abgestellten Leih-Rollern oder von an Geländern abgestellten Fahrrädern, die Handlauf und Platz blockieren.

Problemfeld Infrastruktur

Während Marx am Hauptbahnhof auf die Stadtbahn 16 wartet, kommt Herr Reiner von der Bahnhofsmission vorbei. „Herr Reiner, hallo! Ich habe Ihnen die Unterlagen für die Toiletten-Armatur zukommen lassen. Sie brauchen für Ihre Zwecke nicht die teure aus Edelstahl. Die aus Kunststoff reicht“, sagt Marx. Man kennt sich. Die Bahnhofsmission stellt wochentags stundenweise die einzige behindertengerechte Toilette im Bahnhof zur Verfügung.

Am Abend wird Marx zusammen mit einem Freund aus Wien die Oper besuchen. Beethoven steht auf dem Programm. Bonn und Wien – Geburtsort und Wahlheimat. Besser könnte es nicht passen. Auch platztechnisch passt es genau. Maximal drei Rollstuhlplätze offeriert die Bonner Oper. Mehr Freunde im Rollstuhl darf man für einen gemeinsamen Opernabend nicht haben. In den Linienbussen ist es noch härter: Ein Rollifreund ist da schon zu viel des Guten, denn zwei Rollstuhlnutzer dürfen nicht in einem Bus befördert werden. Einer muss den nächsten Bus nehmen. Bleibt zu hoffen, dass die Taktung gut ist.

Gelassenheit gehört für Marx so zu den wichtigsten Tugenden in seinem Mobilitätsalltag. Die wird er auch am Abend womöglich wieder brauchen, wenn er in der Oper an der langen Schlange der Wartenden vorbeigeführt werden wird. Eine Mitarbeiterin der Oper wird den Aufzug für die fünf Treppenstufen rufen. Er wird verladen werden. Rein. Hoch. Raus. Alle werden glotzen. Diese Momente sind es, die Marx hasst. Am liebsten würde er dann die Arme weit ausbreiten und schreien: „Ja, schaut all her! Ich kann auch dahin, wo ihr seid!“

Im ÖPNV ist es oft das gleiche: Wenn er an der Bushaltestelle steht, steigt der Fahrer nicht selten schlechtgelaunt aus dem Fahrzeug. Hetzt miesepetrig zur hinteren Türe. Schmeißt mit Karacho die Rollstuhlrampe vor die Tür. Rumms. Alle glotzen. Marx denkt: „Ich kann doch nichts dafür, dass der Bussteig keinen barrierefreien Zugang erlaubt.“ Er könnte schreien. Doch er schweigt. Andernorts sensibilisiert er im Rahmen von Schulungen Fahrer*innen und versucht, ein wenig mehr Verständnis zu wecken. Doch in diesem Moment schweigt er.

Marx schweigt nicht, weil er schüchtern wäre. Das ist er nicht. Eher ist er extrovertiert. Er sitzt nicht in seinem Rollstuhl wie eine Schildkröte, die sich in ihren Panzer zurückzieht. Im Gegenteil. Der stattliche Mann mit seinem 1,85 Metern weiß zu beeindrucken. Doch nichts wünscht er sich mehr als einfach mitzuschwimmen. Mitzuschwimmen und nicht aufzufallen. Als selbstverständlich wahrgenommen zu werden. Keine Extrawurst bekommen zu müssen, nur weil die Bedingungen es nicht anders zulassen. „Doch irgendwie scheinen wir Menschen mit Mobilitätseinschränkungen für die Gesellschaft jeden Tag frisch vom Himmel zu fallen“, sagt er. „Gestern gabs uns wohl noch nicht.“

Katharina Garus

ist seit 2021 Redakteuerin bei der fairkehr.
katharina.garus@fairkehr.de

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