Mobilitätsgarantie

Mobilität für alle braucht Barrierefreiheit

Eigentlich sollte der ÖPNV bereits vollständig barrierefrei sein. Doch zahlreiche Ausnahmen, fehlendes Geld und Zuständigkeitsgerangel von Bund und Ländern haben das bisher verhindert.

| ÖPNV Soziale Aspekte der Verkehrswende

Selbstbestimmte Mobilität ist eine Grundvoraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe. Damit auch Menschen mit Behinderungen selbstbestimmt und klimaverträglich mobil sein können, müssen alle öffentlichen Verkehrsmittel und die dazugehörige Infrastruktur barrierefrei sein. Es geht dabei um ein Grundrecht. Gleichzeitig käme eine barrierefreie Infrastruktur auch allen anderen Menschen zugute: Aufzüge und Rampen helfen auch Menschen mit Kinderwagen oder schwerem Gepäck, Texte in leichter Sprache und Piktogramme erleichtern das Verständnis auch für Menschen, die wenig Deutsch sprechen oder kaum lesen können.

Letztendlich profitieren wir also alle von barrierefreier Infrastruktur, nicht zuletzt, weil jede*r von uns irgendwann darauf angewiesen sein könnte: Nur 4% der Behinderungen sind angeboren, in den meisten Fällen entstehen sie durch Unfälle oder Krankheiten. In unserer alternden Gesellschaft wird das Thema Barrierefreiheit für immer mehr Menschen relevant.

Tatsächliche Barrierefreiheit ist vielschichtig: Es braucht Fahrzeuge und dazu passende Haltestellen. Es reicht zudem nicht aus, wenn nur ein Teil barrierefrei ist, etwa wenn der Bus einen Platz für Rollstühle oder Rollatoren hat, der Weg zur Haltestelle aber nicht selbstständig zu bewältigen ist.

Zudem müssen die verschiedenen Arten von Behinderung und Einschränkungen, von Gehbehinderungen über sensorische bis hin zu kognitiven Einschränkungen, mitgedacht werden. Sonst kann es einem ergehen wie zum Beispiel Joachim Marx, der in Bonn an einer barrierefreien Haltestelle durch das akustische Fahrgastinformationssystem das Einfahren der Tram angesagt bekommt, aber nicht einsteigen kann, weil die Stufe zu hoch für seinen Rollstuhl ist.

Deutschland hat die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen ratifiziert, die auch bei öffentlichen Transportmitteln die vollständige Barrierefreiheit als Voraussetzung für eine uneingeschränkte Teilhabe vorsieht. Laut Personenbeförderungsgesetz hätte diese bereits am 01. Januar 2022 erreicht werden müssen – ein Ziel, das weit verfehlt und durch zahlreiche Ausnahmen in den Nahverkehrsplänen ausgehöhlt wurde.

Das PBefG: Barrierefreier Nahverkehr in der Theorie

Das Personenbeförderungsgesetz (PBefG) besagt, dass die von den Ländern benannten Aufgabenträger zuständig sind, die Bedienung der Bevölkerung durch den öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) nach den Grundsätzen des Klimaschutzes und der Nachhaltigkeit sicherzustellen. Dafür müssen die Aufgabenträger Nahverkehrspläne aufstellen, in denen die Anforderungen an Umfang und Qualität des Verkehrsangebotes geregelt sind. Dort heißt es auch:

„Der Nahverkehrsplan hat die Belange der in ihrer Mobilität oder sensorisch eingeschränkten Menschen mit dem Ziel zu berücksichtigen, für die Nutzung des öffentlichen Personennahverkehrs bis zum 1. Januar 2022 eine vollständige Barrierefreiheit zu erreichen. Die in Satz 3 genannte Frist gilt nicht, sofern in dem Nahverkehrsplan Ausnahmen konkret benannt und begründet werden.“ (§ 8 Abs. (3) PBefG)

Der Bund hat also ein Gesetz erlassen, das eigentlich die Barrierefreiheit des ÖPNV bis Anfang 2022 zur Pflicht macht. Nun ist der ÖPNV in Deutschland aber an vielen Stellen noch weit von vollständiger Barrierefreiheit entfernt, und das aus mehreren Gründen.

Zum einen haben wir hier das wiederkehrende Problem der Zuständigkeiten. Der Bund hat ein Gesetz erlassen, dessen Umsetzung in der Zuständigkeit der Länder liegt. Gleichzeitig wurden den Ländern keine zusätzlichen Finanzmittel zur Umsetzung zur Verfügung gestellt. Es wird nur auf die bestehenden Regionalisierungsmittel verwiesen, die aber schon für den Ausbau des ÖPNV nicht reichen.

Zum anderen enthält das Gesetz keine hinreichende Definition davon, was „vollständige Barrierefreiheit“ konkret bedeutet, und stellt keine Standards auf. Es gibt also keine eindeutigen Kriterien, an denen die vollständige Barrierefreiheit gemessen werden könnte. Neben den sensorisch und in ihrer Mobilität eingeschränkten Menschen sind Menschen mit kognitiven Einschränkungen nicht berücksichtigt.

Zudem gibt es keine Konsequenzen oder Sanktionen bei Nichterfüllung. Im Gegenteil: Der letzte Satz ermöglicht Ausnahmen. Diese müssen zwar begründet werden, aber ohne eine Eingrenzung, welche Gründe für die Ausnahmen zulässig sind.  Entsprechend haben alle Länder reichlich Gebrauch davon gemacht.

Die Realität: Busse sind barrierefrei, die Haltestellen meistens nicht

Der Stand der Umsetzung lässt sich den Antworten der Länder auf einen Fragebogen entnehmen, der ihnen im Mai 2021 zugesandt wurde und dessen Antworten bis Dezember 2021 im BMDV eingingen (Anlage 1 auf die Antwort der Bundesregierung auf eine Klein Anfrage, Drs. 20/3244).

Die Länder gaben dabei an, dass alle Nahverkehrspläne oder zumindest die Mehrzahl der Aufgabenträger die Vorgaben des PBefG berücksichtigt haben. Die Nahverkehrspläne enthalten demnach Aussagen zu den Handlungsfeldern Infrastruktur/Haltestellen, Fahrzeuge/Fahrzeugausstattung, Information/Kommunikation sowie Betrieb/Dienstleistung. Themen wie Tarife, Personal, Buchung oder Wege zur Haltestelle wurden nur von einzelnen Bundesländern als Kriterien benannt und berücksichtigt.

Aus den Antworten geht hervor, dass die meisten Fahrzeuge, die im ÖPNV im Einsatz sind, bereits barrierefrei sind. Das gilt vor allem für Busse. Es sind fast ausschließlich Niederflurbusse unterwegs, die meisten Länder geben eine Quote barrierefreier Busse von fast 100% an.

Erheblicher Nachholbedarf besteht allerdings bei barrierefreien Haltestellen. Die Datenlage scheint sehr dünn zu sein, in den meisten Bundesländern ist ein Haltestellenkataster noch im Aufbau oder erst in Planung. Unterschiede gibt es zudem zwischen Bahnhöfen und Bushaltestellen. In Berlin beispielsweise sind 79% der U-Bahn-Haltestellen barrierefrei zugänglich und 69% der Straßenbahnhaltestellen, aber nur 10% der Bushaltestellen. Auch zwischen Stadt und Land gibt es Unterschiede. Nach Aussage aus Thüringen sind im Straßenbahn- und Stadtbusverkehr wesentlich mehr barrierefreie Haltestellen vorhanden als im Regionalbusverkehr.

Von der Ausnahmemöglichkeit wurde also weitreichend Gebrauch gemacht, vor allem beim Thema Haltestellen. Dafür werden vor allem finanzielle und bauliche Gründe angegeben. Auch Personalmangel scheint in vielen Ländern ein Problem zu sein. In Berlin gibt es zudem temporäre Ausnahmen bei komplexer Planungs- und Bauphase bei Aufzugnachrüstungen. In Brandenburg gibt man geringe Frequentierung von Haltestellen als Grund an, in Hamburg sollen erst einmal die Rahmenbedingungen definiert werden und Mecklenburg-Vorpommern erstellt noch Nutzwertanalysen.              

Finanzierung: Ausbau vs. Barrierefreiheit

Die Länder erhalten vom Bund Regionalisierungsmittel und Mittel über das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz. Diese können sie in eigener Zuständigkeit einsetzen, sowohl für den Ausbau bzw. Betrieb als auch für die Herstellung von Barrierefreiheit im ÖPNV. Das birgt die Gefahr, dass der ebenso dringende Ausbau des ÖPNV-Angebots und die Barrierefreiheit finanziell gegeneinander ausgespielt werden. Nur einige Bundesländer haben spezielle Förderprogramme zur Förderung der Barrierefreiheit im ÖPNV aufgelegt, die anderen nicht.

Ausblick

Die Bundesregierung plant den Abschluss eines Ausbau- und Modernisierungspakts, bei dem sich Bund, Länder und Kommunen gemeinsam über die Zukunft des ÖPNV und über dessen Finanzierung bis 2030 verständigen. In diesem Zusammenhang wird auch über Barrierefreiheit beraten. Es bleibt zu hoffen, dass das Thema dort den Stellenwert bekommt, den es verdient, nämlich als Qualitätsmerkmal für den ÖPNV und die Umsetzung eines Menschenrechts auf gesellschaftliche Teilhabe.

Das Thema „vollständige Barrierefreiheit und die Abschaffung der Ausnahmemöglichkeiten im Personenbeförderungsgesetz“ soll außerdem auf der Verkehrsministerkonferenz am 12./13. Oktober 2022 mit den Ländern besprochen werden. Anschließend soll der Bund das weitere Vorgehen prüfen.

Die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage “Barrierefreiheit im Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV)” (Drs. 20/3244) macht jedoch den Eindruck, dass sie das Thema lieber ganz in der Verantwortung der Länder sehen will. So kann das Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag aber nicht umgesetzt werden, in dem es heißt: „Wir werden die Ausnahmemöglichkeiten des Personenbeförderungsgesetzes (ÖPNV) bis 2026 gänzlich abschaffen".

Zwar liegt die Verantwortung zur Umsetzung bei den Ländern. Aber der Bund muss dafür sorgen, dass es einheitliche und verbindliche Standards gibt und die großzügigen Ausnahmeregelungen im PBefG gestrichen werden. Außerdem muss er die Umsetzung kontrollieren und für Konsequenzen bei Nichteinhaltung sorgen. Schließlich muss er die Länder und Kommunen mit den entsprechenden finanziellen Mitteln ausstatten, damit sie die Vorgaben überhaupt umsetzen können. Hier gilt das Konnexitätsprinzip: Wenn der Bund Vorgaben macht, muss er auch die Mittel zur Umsetzung bereitstellen.

Mit unserem Konzept der Mobilitätsgarantie setzen wir uns ein für den Zugang für alle zu einer selbstbestimmten und klimaverträglichen Mobilität. Dafür brauchen wir auch bundesweite und klare Standards und ihre Umsetzung zur Barrierefreiheit im ÖPNV. Aber nicht nur dort: Auch im Fernverkehr der Bahn, bei Sharing-Angeboten und nicht zuletzt auf Fußwegen muss sich noch viel tun, damit alle Menschen überall mobil sein können.

Kontakt

Katharina Klaas

Projektbearbeiterin für das Projekt »Verkehrswende: klimaverträglich und sozial gerecht«

mail@vcd.org

Dominik Fette

Sprecher für klima- und sozialverträgliche Mobilität
Fon 030/28 03 51-281
dominik.fette@vcd.org

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