fairkehr 2/2024: Verkehrspsychologie

Interview: Gefühlte Sicherheit

Welchen Einfluss haben unsere Gefühle darauf, wie sicher wir uns im Verkehr fühlen und wie wir uns verhalten? Ein Interview mit dem Verkehrspsychologen Professor Dr. Tibor Petzoldt zum Thema Verkehrssicherheit.

| Tempolimit Vision Zero fairkehr-Magazin 02/2024

fairkehr-Redaktion: Ich fahre mit dem Rad auf einem Fahrradschutzstreifen. Ein Lkw fährt mit geringem Seitenabstand an mir vorbei. Ich habe Angst. Was passiert da gerade in meinem Körper? 

Prof. Dr. Tibor Petzoldt: Sie fühlen sich unsicher. Sie nehmen offensichtlich eine Bedrohungslage wahr. Was da aber in Ihrem Körper passiert, kann Ihnen ein Biologe oder eine Biologin besser beantworten. Entscheidend ist, dass Sie sich offenbar unwohl fühlen. Und das ist nicht gut, und man sollte gegebenenfalls etwas dagegen tun.

Was könnte das sein – außer das Radfahren sein zu lassen?

Wir haben ein konkretes Problem im Radverkehr, weil hier die gefühlte Unsicherheit womöglich dazu führt, dass Leute eben nicht aufs Rad steigen. Aus Studien wissen wir, dass eine gefühlte Unsicherheit mitunter dazu führt, dass Leute zumindest bestimmte Strecken nicht wählen oder sogar ganz aufs Radfahren verzichten. Und das wollen wir natürlich nicht. Deswegen muss es das Ziel sein, die gefühlte Sicherheit zu erhöhen. 

Hat die gefühlte Unsicherheit auch etwas Gutes?

Das Unsicherheitsgefühl ist ein sinnvoller Mechanismus, der teilweise in der Gestaltung von Verkehr sehr bewusst genutzt wird. Jedes Mal, wenn wir eine Straße verengen oder wenn wir Markierungen wegnehmen, dann machen wir es gefühlt unsicherer. Aber natürlich nicht, weil wir die Leute ärgern wollen, sondern weil wir möchten, dass sie sich anders verhalten. Wenn wir zum Beispiel auf einer Landstraße die Markierung in der Mitte entfernen, dann ist das für die Autofahrer*innen unangenehm. Es besteht die Chance, dass man irgendwie unorganisiert auf den Gegenverkehr trifft, und die gefühlte Unsicherheit steigt. Bei den meisten sollte das dazu führen, dass sie dem­entsprechend aufmerksamer und auch langsamer fahren. Im Auto möchten wir nicht unbedingt, dass Sie maximale Sicherheit erleben, denn dann fahren Sie einfach schneller.

Sind wir also unvorsichtiger, wenn wir uns sicher fühlen? Und sind wir vorsichtiger, wenn wir uns unsicher fühlen?

Eine verkürzte Antwort wäre wahrscheinlich: Ja. Aber da spielen noch viele andere Einflussfaktoren eine Rolle. Insgesamt ist es einfach gut, wenn wir ein Mittelmaß finden: nicht zu viel und nicht zu wenig Sicherheitsgefühl. Wir wollen die Verkehrsteilnehmenden ja nicht komplett verängstigen. Man soll ja auch entspannt im Straßenverkehr unterwegs sein können. Vielleicht hätten wir maximale Sicherheit, wenn die Leute permanent verängstigt sind. Aber das kann ja nicht das Ziel sein. Und sich zu sicher zu fühlen, führt zu Nachlässigkeiten. Wenn sich alles einfach anfühlt, dann passen Sie nicht mehr auf.

Statistisch betrachtet passiert nur auf jedem 35.000. Weg, den wir zurücklegen, ein Unfall. Dennoch fühlen sich 44 Prozent der Verkehrsteilnehmenden unsicher. Wie kann man diese Diskrepanz zwischen gefühlter und objektiver Sicherheit erklären?

Ich weiß nicht, ob das überhaupt eine Diskrepanz ist, denn die Zahlen sind so nur schwer zu vergleichen. Aber natürlich ist es nicht gut, wenn sich so viele unsicher fühlen. Und aktuelle Untersuchungen zeigen tatsächlich, dass sich das Verkehrsklima in den letzten Jahren verschlechtert hat. Es wird mehr Aggression wahrgenommen. Und da spielt die wahrgenommene Unsicherheit sicher ihre Rolle. 

Woran liegt das?

Eine wesentliche Ursache dafür sehe ich in der zunehmenden Verdichtung des Verkehrs. Es sind immer mehr Leute unterwegs, und das inzwischen mit ganz verschiedenen Verkehrsmitteln. Das führt zu einer erhöhten Komplexität. Der verfügbare Raum in der Stadt ist sowieso schon eng. Und jetzt muss man einen Blick für verschiedenste Formen von Verkehrsteilnehmenden haben, die aus ganz unterschiedlichen Richtungen auf einen zukommen können, und dies mit ganz verschiedenen Geschwindigkeiten. Es gibt mehr Konfliktpotenzial, was zu einer gefühlten Unsicherheit führt. 

Nimmt damit die Aggression im Verkehr zu?

Da wäre ich vorsichtig. Was ist denn Aggression? Wie wollen Sie die messen? Nicht jedes potenziell gefährdende Verhalten eines anderen geht mit einer bewussten Schädigungsintention einher. Ich kann natürlich objektiv messen, inwieweit irgendwo Abstände zwischen Verkehrsteilnehmer*innen geringer werden. Aber ist der vermeintliche Aggressor versehentlich zu dicht aufgefahren oder bewusst und absichtlich? Nicht bei jeder unangenehmen Interaktion im Verkehr sollte man unterstellen, dass der oder die andere einem etwas Böses will.

„Das Verkehrs­klima hat sich verschlechtert.“

Prof. Dr. Tibor Petzoldt

Wie könnte Mobilität organisiert werden, damit sie weniger beanspruchend für die Verkehrsteilnehmenden ist?

Was uns häufig davon abhält, Lösungsansätze zu implementieren, ist die Tatsache, dass zumindest im städtischen Raum einfach zu wenig Platz ist. Irgendjemandem  müssen wir wehtun – nicht körperlich natürlich. Und dazu sind wir zu wenig bereit. Wenn wir zum Beispiel den neuen Radweg wollen, dann muss ein Fahrstreifen oder eine Parkfläche weichen. Autofahrende müssten in diesem Fall zurückstecken und wären darüber sicher wenig erfreut. Ich habe dafür keine einfache Lösung, außer der Erkenntnis, dass es nicht ohne Schmerzen gehen wird.

Haben wir jetzt ein Sicherheitsproblem im Verkehr oder nicht? 

Ich glaube nicht, dass wir so ein wahnsinnig großes Sicherheitsproblem haben. Natürlich ist jeder Verkehrstote einer zu viel. Aber wenn man unsere Zahlen international vergleicht, dann sind wir schon sehr weit vorn. Ich will nicht sagen, dass alles perfekt ist, aber ich glaube, in weiten Teilen geht es uns schon ganz gut auf der Straße. Trotz allem. Natürlich, die hohe Zahl an Personen, die sich subjektiv unsicher fühlen, ist nicht von der Hand zu weisen. Das  hat aber auch ein Stück weit mit der leichten Verfügbarkeit entsprechender Informationen zu tun. Dadurch sind Unfallereignisse in den Köpfen viel präsenter – und damit steigt auch das Unsicherheitsgefühl.

Autorin

Katharina Garus ist Redakteurin bei der fairkehr-Agentur in Bonn und schreibt seit 2021 für das VCD-Magazin fairkehr. Sie ist Expertin für alle Themen rund ums Fahrrad und nachhaltige Reisen.

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