fairkehr 2/2024: Thema Verkehrssicherheit

Warum Sicherheit keine Zahl ist

Unfallstatistiken beherrschen die Debatte um Gefahren im Verkehr. Der Faktor Mensch kommt dabei allerdings viel zu kurz, obwohl Sicherheit für Menschen vor allem ein Gefühl ist.

| Fußverkehr Tempolimit Vision Zero fairkehr-Magazin 02/2024

1970 war das tödlichste Jahr auf Deutschlands Straßen. Unfassbare 21.300 Menschen ließen ihr Leben bei Verkehrsunfällen. Der Staat reagierte, gründete den Deutschen Verkehrssicherheitsrat (DVR) und erließ Gesetze und Verordnungen, um die Gefahren zu reduzieren: 1972 kam die Höchstgeschwindigkeit 100 km/h auf Landstraßen. Ein Jahr später die Einpromillegrenze. 1976 die Gurtpflicht.

Hinzu kamen fahrzeugtechnische Innovationen wie das Antiblockiersystem ABS oder Airbags. Gemeinsam entfalteten die Maßnahmen von Staat und Autoherstellern eine starke Wirkung: Bis 2023 konnten die Verkehrstoten auf 2.830 – also auf ein Achtel des Jahres 1970 – reduziert werden. Auch die Zahl der Verletzten ist stark gesunken.

Eine Erfolgsgeschichte? Jein. Denn 2.830 Verkehrstote und rund 52.000 Schwerverletzte sind immer noch viel zu viel – und weit entfernt von der „Vision Zero“, also einem Verkehrssystem, das den Tod von Menschen nicht mehr zynisch als Kollateral­schaden akzeptiert.

Der politischen Arbeit des VCD ist es zu verdanken, dass die Vision Zero in Deutschland als gesellschaftliches Ziel anerkannt ist: Die letzten beiden Regierungen haben sie sich in ihren Koalitionsverträgen auf die Fahnen geschrieben. Seit 2021 wird sie in der Verwaltungsvorschrift zur Straßenverkehrsordnung als „Grundlage aller verkehrlichen Maßnahmen“ bezeichnet. Somit müssten sich Verkehrsbehörden eigentlich an der Vision Zero als Leitstern orientieren. Die Formulierung ist stark, die Umsetzung in der Praxis aber mangelhaft.

Denn die Politik verhindert nach wie vor viele Lösungen, die die Verkehrssicherheit weiter erhöhen könnten. Beispiel Landstraße: Hier sterben die meisten Menschen. Betrachtet man nur die Opferzahlen unter den Motorrad-, Auto- und Mitfahrer*innen, liegt der Anteil bei satten 71 Prozent – obwohl laut ADAC auf Landstraßen nur circa 40 Prozent der Personenkilometer gefahren werden. Um die Sicherheit auf Landstraßen zu erhöhen, fordert der VCD seit Jahren ein Absenken der Höchstgeschwindigkeit auf 80 km/h. Der DVR sieht das genauso: „Es ist an der Zeit, dass wir die zentrale Stellschraube für mehr Sicherheit anfassen und die heißt: Geschwindigkeit rausnehmen“, so Präsident Manfred Wirsch jüngst zum Thema „Vision Zero auf der Landstraße“.

Vision Zero: Eine VCD-Erfolgsgeschichte

2002 brachte derVCD die „Vision Zero“ nach Deutschland. Das VCD-Magazin fairkehr widmete dem Thema eine große Titelgeschichte. 2004 veröffentlichte der VCD seinen „Masterplan Vision Zero“. Mit Erfolg: 2007 übernahm der Deutsche Verkehrssicherheitsrat das Konzept als Leitbild. Die letzten beiden deutschen Regierungen nahmen die Vision Zero als Ziel in ihre Koalitionsverträge auf. Als erstes Land hatte Schweden 1997 die Vision Zero zum Leitbild der Verkehrspolitik erhoben. Der Grundgedanke: Das Problem ist nicht, dass Unfälle passieren, sondern dass sie schwerwiegende oder tödliche Folgen haben. Und: Menschen machen Fehler, deshalb müssen wir unsere Infrastruktur so bauen, dass sie Fehler verzeiht, und bei Unfällen keine Menschen mehr schwer verletzt werden.

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Rücksicht auf Langsamere

Wer tiefer in die Unfallstatistik eintaucht, sieht, dass sich die Sicherheit für die verletzlichsten Verkehrsteilnehmer*innen nicht verbessert hat. Im Gegenteil. Die Zahl der jährlich verletzten und getöteten Radfahrer*innen hat sich seit Beginn der Erhebung durch das Statistische Bundesamt im Jahr 1979 mehr als verdoppelt. Wer nicht durch eine Karosserie geschützt wird, lebt gefährlich. Allein in Berlin wurden 2023 zwölf Radfahrer*innen getötet und 574 schwer verletzt. Wie viel Leid damit verbunden ist, drücken Zahlen nicht aus.

Mit der „Vision Zero“ als „Grundlage aller verkehrlichen Maßnahmen“ wirklich ernst machen heißt: den Schutz von Menschen, die zu Fuß oder mit dem Rad unterwegs sind, in den Mittelpunkt zu stellen. Das stellt die Verkehrsplanung vom Kopf auf die Füße. In der Reichsstraßenverkehrsordnung von 1937 hieß es: „Der Langsame hat auf den Schnellen Rücksicht zu nehmen.“ Fußgänger*innen und Radfahrer*innen sollten die Bahn für den Kfz-Verkehr frei machen und sich im wahrsten Sinne des Wortes zu einer Randerscheinung degradieren lassen – ein Prinzip, mit dem in Deutschland nie gebrochen wurde.

Menschengerechte Mobilität hieße dagegen: Der Schnelle hat auf den Langsamen Rücksicht zu nehmen. Vor allem eine Maßnahme würde sofort helfen, die Sicherheit von Radfahrer*innen und Fußgänger*innen zu verbessern: Das vom VCD geforderte Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit innerorts. „30 muss das neue 50 werden“, sagt Anika Meenken vom VCD. „Das bringt mehr Sicherheit auf den Straßen, vor allem für Kinder und Ältere.“ Doch die dafür benötigten gesetzlichen Änderungen hat der Bundesrat jüngst ausgebremst.

Gefühl versus Statistik

Ernüchternd, wie die Politik lahmt. Umso mehr, als die offiziellen Zahlen von Polizei und Versicherungen eine wichtige Dimension der Verkehrssicherheit völlig außer Acht lassen. Jeder weiß aus Erfahrung: Sicherheit ist keine Zahl, sondern ein Gefühl. Das Wort selbst geht auf die Bedeutung „Sorglosigkeit“ zurück (lat. securitas von se cura, „ohne Sorge“). Diese subjektive Dimension der Sicherheit ist sowohl in der öffentlichen Debatte wie auch in der Verkehrsforschung bisher stark unterbelichtet.

„Nicht alles, was objektiv sicher ist, ist auch subjektiv sicher“, so der Mobilitätsforscher David Friel. An der Technischen Universität Berlin haben er und andere Wissenschaftler*innen das subjektive Sicherheitsgefühl von Radfahrer*innen erforscht. Im Podcast „Radwissen“ nennt er das Beispiel Radstreifen in Mittellage, also wenn Fahrräder zwischen einer Autospur links und einer Abbiege­spur rechts eingekeilt sind. „Hier haben Menschen sehr große Angst, vom Auto überfahren zu werden“, so Friel. Geht es rein nach der Unfallforschung, mag diese Art der Verkehrsführung vertretbar sein. Aber wer sich an solchen Stellen bedroht fühlt, lässt das Rad im Zweifelsfall stehen.

Der Mensch hat nun mal einen Gefahreninstinkt. Und Gefühl und Statistik gehen im Verkehr stark auseinander. Ein kleines Rechenexperiment zeigt, wie stark: Über 90 Milliarden Wege legt die Bevölkerung Deutschlands im Jahr zurück. Die offizielle Unfallstatistik registriert etwa 2,6 Millionen Unfälle. Das heißt: pro 35 000 Wege ereignet sich ein Unfall, nur alle 240 000 Wege kommt dabei eine Person zu Schaden. Trotzdem fühlt sich laut einer aktuellen Studie der Unfallforschung der Versicherer ein hoher Anteil von 44 Prozent der Verkehrsteilnehmer*innen im Straßenverkehr unsicher.

„Auf dem Fahrrad fühle ich mich anderen Verkehrsteilnehmern ausgeliefert.“

... sagt eine große Mehrheit der Menschen, die selten oder nie Rad fahren.

Verkehrsunfälle: Hohe Dunkelziffer

Wie erklärt sich dieses Gefälle? Da ist zum einen die Dunkelziffer an Unfällen, die nie Eingang in die polizeiliche Statistik finden. Wie viele das sind, ist bisher wenig erforscht. Laut einer 2004 in Großbritannien durchgeführten Studie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) werden über ein Drittel der im Straßenverkehr erlittenen Verletzungen nicht erfasst. Der Radfahrer, der in den Straßenbahnschienen hängen bleibt; die Rent­nerin, die auf dem unebenen Gehweg stürzt; die Schülerin, die, vom Auto bedrängt, vom E-Scooter fällt – sie alle tauchen in der Statistik nicht auf, solange es bei Schürfungen, Prellungen oder nur dem Schreck bleibt.

Außerdem beeinflussen auch Beinaheunfälle unser Sicherheitsgefühl. Wenn ein Auto beim Überholen Zentimeter an meinem Rad vorbeirauscht, fühle ich mich bedroht, auch wenn dieser Vorgang keine harten Daten hinterlässt. Je öfter wir solche Situationen erleben, desto verletzlicher fühlen wir uns. Zurück bleibt das starke Gefühl: Jedes Mal, wenn ich mit dem Rad unterwegs bin, begebe ich mich in Gefahr.

Zur subjektiven Unsicherheit trägt auch bei, dass Menschen Risiken je nach Perspektive unterschiedlich einschätzen. Für Fußgänger*innen und Radfahrer*innen stellen geparkte Autos eine Gefahr dar. Fast jeder fünfte Unfall, bei dem sie zu Schaden kommen, steht mit parkenden Autos in Verbindung. Sie verstellen häufig die Sicht, und unvermittelt geöffnete Autotüren erweisen sich als gefährliches Hindernis. Autofahrer*innen, so zeigt die Forschung, unterschätzen diese Risiken stark und handeln deshalb oft rücksichtslos.

Verkehrssicherheit und das Bedürfnis nach Kontrolle

Doch die Angst vor Unfällen ist nicht der einzige ausschlaggebende Faktor für unser Sicherheitsempfinden. Das legen Ergebnisse aus Umfragen nahe. „Die Gefahr, beim Fahrradfahren in einen Unfall verwickelt zu werden, ist mir zu groß.“ Dieser Aussage stimmen laut „Fahrradmonitor 2023“ 56 Prozent der Menschen zu, die das Rad selten oder nie nutzen. Mehr, nämlich 65 Prozent, unterschreiben folgenden Satz: „Auf dem Fahrrad fühle ich mich anderen Verkehrsteilnehmern ausgeliefert.“ Das Bedürfnis, das Risiko selbst bestimmen zu können, wiegt also höher als die Angst davor, in einen Unfall verwickelt zu werden. Offenbar erfahren viele Menschen den Verkehr als etwas, das ihnen wie ein Schicksal zustößt. Und nicht als eine Art, sich frei und selbstbestimmt zu bewegen.

Dieser Kontrollverlust ist entscheidend. Ein Beispiel: Auf einem Schutzstreifen fühlen sich laut Fahrradmonitor nur die Hälfte der Radfahrer*innen sicher (49 Prozent); auf einem baulich getrennten Radweg fast alle (94 Prozent). Die Risikoeinschätzung ist eine völlig andere, egal ob ein bestimmter Schutzstreifen sicher ist oder nicht. Entscheidend ist das individuelle Gefühl: Wenn hier etwas passiert, wird es richtig gefährlich. Laut Fahrradmonitor würden 48 Prozent der Befragten in Zukunft gern öfter das Rad nutzen. Doch umsteigen werden sie nur, wenn das Gefühl stimmt.

Zum Sicherheitsgefühl trägt bei, wenn der Verkehr übersichtlich und leicht verständlich ist. „Unsere Studie zeigt: Verständlichkeit, Sicherheit und Komfort hängen zusammen“, so Mobilitätsforscher Friel. Diese Kriterien seien für unterschiedliche Menschen aber unterschiedlich wichtig. „Wenn der Radweg zum Beispiel im Nichts endet, führt das bei manchen dazu, dass sie sich ex­trem unsicher fühlen und im Zweifel das Rad stehen lassen. Andere sind davon nur genervt.“ Wo ein durchgehendes Rad- oder Fußwegenetz fehlt, ist entspannte Mobilität nicht möglich. Das wiederum führt zu Unsicherheit.

Gerade in Städten stellt der Verkehr immer höhere Ansprüche an Konzentration und Fahrkompetenz. Immer mehr und immer größere Autos dominieren die Straßen. Gleichzeitig steigt die Zahl der Fahrräder, der Lieferverkehr boomt und die E-Scooter kommen noch obendrauf. Das System platzt aus allen Nähten. In diesem umkämpften Raum fühlt sich am Ende nur noch derjenige geschützt, der im SUV sitzt.

Stress statt Leichtigkeit

Eine Abwärtsspirale. Denn selbstbestimmt und klimafreundlich mobil zu sein, darf keine Frage des Muts sein. Die Schwelle für Menschen, die mehr Rad fahren oder zu Fuß gehen wollen, sollte nicht höher, sondern niedriger werden. Deshalb braucht es Straßenräume, in denen sich Menschen zu Fuß und auf dem Rad willkommen und wohlfühlen. Vier Maßnahmen sind besonders geeignet, Sicherheit und Sicherheits­gefühl gleichermaßen zu steigern:

Erstens: Durchgehende, gut markierte Netze mit möglichst baulich getrennten Wegen für Rad- und Fußverkehr. Das Straßenverkehrsgesetz macht die Maßgabe der „Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs“. Für alle, die mit dem Rad oder zu Fuß unterwegs sind, klingt das wie Hohn. Denn gemeint ist nur der Kfz-Verkehr. Während für Autos alle Hindernisse aus dem Weg geräumt werden, müssen Radfahrer und Fußgängerinnen sich ihre Wege mühsam zusammenstückeln, Barrieren überwinden und Umwege in Kauf nehmen. So kommen sie auch untereinander oft in Konflikte, was vermeidbar ist. Und an Landstraßen fehlen oft getrennte Radwege. All das bedeutet Stress statt Leichtigkeit.

Zweitens: Mehr Komfort für alle, die nicht im Auto sitzen, das heißt: breitere und übersichtlichere Fuß- und Radwege, die auch nachts durchgängig gut ausgeleuchtet sind.

Drittens: Autos raus aus der Stadt. Denn der effizienteste Weg, Verkehr sicherer zu machen, ist weniger Autoverkehr. Weltweit haben Städte mit dichten, stark frequentierten ÖPNV-Systemen niedrigere Unfallzahlen als solche mit hoher Autodichte. Städte mit einem kompakten Stadtbild, das kurze Wege ermöglicht, sind ebenfalls sicherer.

Viertens: Geschwindigkeiten, die dem menschlichen Maß entsprechen und nicht der Technik. Brüssel macht’s vor: 2021 hat die belgische Hauptstadt Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit festgelegt. Nach einem Jahr gab es dort nur noch die Hälfte an Verkehrstoten, 20 Prozent weniger Schwerverletzte und 20 Prozent mehr Radverkehr.
Für Experten wie Friel keine Überraschung: „Fast alle Personen in unserer Studie sehen Autos als die große Gefahrenquelle. Deshalb müssen wir etwas machen, um die Gefahr zu minimieren. Entweder wir trennen Verkehre physisch oder wir machen die Autos selbst weniger gefährlich. Sprich: weniger Autos, die sehr viel langsamer unterwegs sind.“

Der VCD fordert daher: Städte müssen endlich anfangen, die Mobilität vom Menschen her zu planen. Ein erster Schritt zu mehr gefühlter Sicherheit wäre, die Bürger*innen zu befragen, wo der Verkehr für sie komfortabel ist und wo angstbesetzt. Dann können Städte und Kommunen gezielt einladende Straßen gestalten, auf denen alle entspannt und sorglos unterwegs sein können. Der Gesetzgeber muss dafür sorgen, dass sie die entsprechenden rechtlichen Gestaltungsspielräume dafür bekommen.

Autoren

Tim Albrecht ist Redakteur, Berater und Coach für Kommunikation rund um die Themen Nachhaltige Mobilität & Urban Transformation. Er arbeitet bei der fairkehr Agentur in Bonn und schreibt seit 2018 für das VCD-Magazin fairkehr.

Katharina Baum schreibt als Redakteurin über nachhaltige Mobilität und begleitet verschiedenste Projekte, von Internetauftritten über Kommunikationskampagnen bis zu Nachhaltigkeitsberichten. Sie schreibt seit 2020 für das VCD-Magazin fairkehr und arbeitet bei der fairkehr Agentur in Bonn.

Benjamin Kühne ist Redakteur und schreibt seit vielen Jahren über alle Themen der Mobilitätswende für das VCD-Magazin fairkehr. Er arbeitet bei der fairkehr Agentur in Bonn.

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