Dass S-Pedelecs ein immenses Potenzial für die Verkehrswende haben, ist weitestgehend unumstritten. Gerade für Pendler mit Arbeitswegen um die 20 Kilometer und auf Überlandstrecken spielen die E-Bikes mit Tretunterstützung bis zu einer Geschwindigkeit von 45 km/h ihre Vorteile aus. Dass sie sich in Deutschland bisher nicht durchsetzen konnten, liegt an einem einzigen Grund: S-Pedelecs sind hierzulande als Kraftfahrzeuge kategorisiert und dürfen nicht auf Radwegen fahren. Nicht einmal auf solchen, die für Mofas freigegeben sind. Auch nicht auf Radschnellwegen oder kaum befahrenen Feldwegen. S-Pedelecs müssen immer auf der Straße fahren. Das ist weder dem Sicherheitsgefühl der S-Pedelecfahrer*innen zuträglich noch der Akzeptanz durch die Autofahrer*innen, die meist nicht wissen, dass S-Pedelecs nicht den straßenbegleitenden Radweg nutzen dürfen.
Rücksichtslos oder mit großem Potenzial?
Für diese Regulierung gibt es im Wesentlichen ein Argument: die Schutzbedürftigkeit langsamerer Verkehrsteilnehmer*innen. Weit verbreitet ist die Angst, dass S-Pedelecs künftig mit 45 km/h auf einem Radweg oder gar auf einem gemeinsamen Rad- und Fußweg an einem vorbeirauschen. „Wir leben in einer Gesellschaft zunehmender Rücksichtslosigkeit, in der das Recht des Stärkeren immer mehr ausgelebt wird. Sollten wir uns da wirklich auf das sittliche Gefühl der S-Pedelec-Fahrenden verlassen?“, fragt sich Rupert Röder, VCD-Landesvorstand Rheinland-Pfalz.
Baden-Württemberg hat sich von den Sorgen nicht abschrecken lassen und nimmt stattdessen das Potenzial ins Visier, das S-Pedelecs für die Verkehrswende bieten. Auf Initiative der Stadt Tübingen hat das Land bereits 2018 das Zusatzschild „S-Pedelecs frei“ eingeführt. Tübingen kennzeichnet seitdem einzelne Radwege mit dem Schild und öffnet sie so für S-Pedelecs. Aber nur solche, die dafür auch geeignet sind. 2023 ist mit Nordrhein-Westfalen ein weiteres Bundesland dem Vorbild Baden-Württembergs gefolgt und ermöglicht das Zusatzschild „S-Pedelecs frei“.
Keine Hinweise auf erhöhtes Risiko
Die Schweiz hat schon 2012 ihr Radwegenetz grundsätzlich für S-Pedelecs freigegeben. Mit Erfolg: Bei den Verkaufszahlen kamen S-Pedelecs dort zuletzt auf einen Marktanteil von 20 bis 25 Prozent am E-Bike-Markt, die Akzeptanz in der Bevölkerung ist groß. In Deutschland liegt ihr Marktanteil unter den E-Bikes bei 0,5 Prozent. Auch in den Niederlanden, Belgien und Dänemark ist S-Pedelecs das Fahren auf Radwegen, zum Teil mit Einschränkungen, gestattet.
Unsere Nachbarn scheinen also – mal wieder – eine Pedalumdrehung weiter zu sein als wir. Und spannend: Bisher gibt es keine Hinweise, dass S-Pedelecs auf Radwegen zu mehr Unfällen führen. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie des Zweirad-Industrie Verbands (ZIV), im Rahmen derer die Regulierungen für S-Pedelecs sowie Unfallzahlen in Deutschland, Belgien, Dänemark, den Niederlanden und der Schweiz systematisch erfasst und einander gegenübergestellt wurden. Die Daten zeigten kein erhöhtes Unfallrisiko von S-Pedelecs im Vergleich zu konventionellen Fahrrädern, sagt Anke Schäffner, die als Leiterin Politik und Interessenvertretung beim ZIV an der Erstellung der Studie beteiligt war. Insbesondere gäbe es keine auffälligen Häufungen von Unfällen zwischen S-Pedelecs und langsamerem Fahrrad- bzw. Fußverkehr.
Fahrten mit dem S-Pedelec ersetzen Autofahrten
Warum aber ist es dann trotzdem so schwierig, das Potenzial der S-Pedelecs für die Mobilitätswende zu erschließen? Vielleicht weil genau dieses Potenzial viel zu selten erwähnt, geschweige denn in den Mittelpunkt gestellt wird. Und das, obwohl es dafür – anders als für die Sicherheitsbedenken – bereits wissenschaftliche Belege gibt. Denn laut einer Evaluationsstudie in Rotterdam ersetzen 60 Prozent der S-Pedelec-Fahrten Autofahrten. Und das ist doch ein Potenzial, das es durchaus zu erschließen lohnt.
Autorin
Katharina Garus ist Journalistin und Beraterin rund um nachhaltige Mobilität mit besonderer Begeisterung fürs Fahrrad. Sie arbeitet bei der fairkehr Agentur in Bonn und schreibt seit 2021 für das VCD-Magazin fairkehr.