Adrian Dantley hat es verstanden. Seit über zehn Jahren hilft der 69-jährige US-Amerikaner Schulkindern über die Straße. In den USA eigentlich nichts Besonderes. Denn dort hat jede Schule einen sogenannten „crossing guard“. Der stellt sich schützend vor den Zebrastreifen, stoppt den Autoverkehr und winkt die Kinder durch. Den mager bezahlten Job machen oft Rentner, um sich etwas dazuzuverdienen. Was Dantley von anderen unterscheidet: Der Mann war in den 80er-Jahren ein Basketball-Star, hat eine olympische Goldmedaille gewonnen und Millionen Dollar verdient. „Ich tue es für die Kinder“, sagt er – „I do it for the kids!“.
Wie eine kürzlich erschienene Studie nahelegt, sollte auch vor deutschen Schulen an jedem Zebrastreifen ein Schülerlotse stehen: „Zebrastreifen lösen bei Kindern oft Ängste aus“, so die Autor*innen. Denn sie machen die Erfahrung, dass viele Autofahrer*innen nicht anhalten. „Sie sind sich unsicher, ob die Autos wirklich stoppen oder sie womöglich übersehen.“ Immer wuchtigere Fahrzeuge verstärken diese Ängste. Die Hersteller gestalten Fahrzeugfronten bewusst so, dass sie Aggression und Dominanz ausstrahlen. Da die einschüchternde Wirkung Kinder davon abhält, den Augenkontakt mit den Autofahrer*innen zu suchen, entstehen unklare Situationen, die zu Unfällen führen können.
Forschung zu Sicherheitsgefühl auf Schulwegen
Einer der Autoren der Studie, Rafael Hologa von der Universität Freiburg, erklärt: „Unsere Ergebnisse zeigen, dass Situationen, bei denen Verkehre aufeinander treffen, bei Kindern und Jugendlichen aller Altersgruppen Furcht auslösen.“ Da Kinder Geschwindigkeiten und das Verhalten anderer schlechter einschätzen können als Erwachsene, sind diese Momente für sie besonders stressig.
Für die in der Fachzeitschrift „Journal of Cycling and Micromobility Research“ veröffentlichte Studie wählte das internationale Forscherteam aus Schweden, Norwegen und Deutschland einen ungewöhnlichen Ansatz: Die Wissenschaftler*innen befragten Freiburger Kinder und Jugendliche im Alter zwischen sechs und 17 Jahren sowie Lehrer*innen von 40 Schulen. Dabei untersuchten sie nicht nur das subjektive Sicherheitsgefühl der Schüler*innen; sie verglichen auch die offiziellen Unfallstatistiken mit den an den Schulen selbst registrierten Unfällen. „Aus forschungsethischen Gründen ist es aufwendig, mit Kindern zu arbeiten“, erläutert Hologa die Herangehensweise. „Deshalb versuchen viele Studien es erst gar nicht.“
„Wir wissen zu wenig über die Perspektive von Kindern.“
Rafael Hologa, Verkehrsforscher
Mehr Unfälle auf dem Weg zur Schule als erwartet
Doch Nachfragen ist wichtig. Denn die Forscher*innen entdeckten ein starkes Gefälle zwischen den offiziellen Unfallstatistiken und den von Schulleitungen und Kindern berichteten Vorfällen: Während es an Freiburger Grundschulen über einen Zeitraum von drei Jahren offiziell zu 96 Verletzungen durch Verkehrsunfälle kam – darunter fünf bei Kollisionen mit Autos schwer verletzte Kinder – kamen die an der Studie teilnehmenden Grundschulen für nur einen Monat bereits auf 30 auf dem Schulweg verletzte Kinder. Die Diskrepanz ist riesig.
„Wir haben zu wenig Daten für das reale Unfallgeschehen auf Schulwegen“, schlussfolgert Hologa, der auch für den Mobilitäts-Thinktank T3 tätig ist. „Für Freiburg konnten wir zeigen, dass viele Verletzungen und Zusammenstöße in der offiziellen Statistik nicht auftauchen, weil sie nicht versicherungsrelevant sind.“ Zum Unsicherheitsgefühl tragen sie trotzdem bei.
Vier von fünf Verletzungen passieren, ohne dass es zu Zusammenstößen kommt. Die genauen Gründe für die Unfälle hat die Studie nicht erhoben. Verallgemeinern lassen sich diese wie auch die anderen Ergebnisse der Fallstudie aber nicht ohne Weiteres: Es braucht noch mehr Forschung zu diesem Thema.
Unbestritten ist: Für Schulen, die Schulwegpläne erstellen, ist es wichtig, die Perspektive der Kinder zu berücksichtigen. Über digitale Tools können Schüler*innen zum Beispiel auf Karten eintragen, wo sie sich besonders unsicher fühlen oder es oft zu Zwischenfällen kommt. Kritische Zonen sollten dann gemeinsam mit dem Stadtplanungsamt entschärft werden.
Elterntaxi als Risiko für Kinder
Während es in anderen Ländern im Umfeld von Schulen zum Teil strikte Geschwindigkeitsbegrenzungen und empfindliche Bußgeldstrafen gibt, beschränkt man sich in Deutschland meist auf Sicherheitskampagnen zum Schulstart. Ein Banner hier, ein gut gemeinter Appell dort: Eine bittere Erkenntnis der Studie legt nahe, dass dies der falsche Weg ist. Denn nach dem höchsten Sicherheitsrisiko auf dem Schulweg befragt, antworteten die Schulleiter*innen: die Eltern.
Gemeint ist das Problem der „Elterntaxis“ – also die vielen Autos, mit denen Kinder zur Schule gebracht werden und die gerade morgens für ein unübersichtliches und gefährliches Schulumfeld für alle anderen Verkehrsteilnehmer*innen sorgen. Für Schulen, die gegen Elterntaxis angehen wollen, hat der VCD eine Anleitung zur Einrichtung einer Schulstraße erarbeitet (siehe Infokasten).
Wie die Studie aus Freiburg zeigt, braucht die Schulwegplanung einen ganzheitlichen Ansatz, der die Erfahrungen der Kinder und Jugendlichen ernst nimmt und einbezieht. Gerade in Zeiten, in denen Kinder sich immer weniger bewegen, sollten wir alles tun, damit sie sich zu Fuß oder mit dem Rad auf dem Schulweg wohl fühlen. Um es mit Adrian Dantley zu sagen „Let’s do it for the kids!“
VCD unterstützt Kinder auf dem Schulweg
Wie kein anderer Verband setzt sich der VCD für sichere Schulwege ein. Hier sind drei VCD-Tools, mit denen
ihr Kinder unterstützen könnt:
Die Mobifibel zeigt, wie ihr Kindern helfen könnt, frei, sicher und selbständig mobil zu sein. Lehrer*innen, Erzieher*innen und Elterninitiativen können die Mobifibel kostenlos im Klassensatz bestellen.
Schritt für Schritt zur Schulstraße: Mit unserer Anleitung könnt ihr dafür sorgen, dass die Straße vor der Schule rund um Schulbeginn
und -ende für den Autoverkehr gesperrt wird. Kampf den Elterntaxis!
Online-Portal für aktive Mobilität an Schulen: In unserer Datenbank findet ihr viele gute Beispiele von Schulen, die sich für aktive Mobilität ihrer Schüler*innen einsetzen. Lesen, lernen, selber machen!
Autor
Tim Albrecht ist Redakteur, Berater und Coach für Kommunikation rund um die Themen Nachhaltige Mobilität & Urban Transformation. Er arbeitet bei der fairkehr Agentur in Bonn und schreibt seit 2018 für das VCD-Magazin fairkehr.