An der Märkischen Straße in Dortmund kann man sein eigenes Wort kaum verstehen. Auf vier Fahrspuren rauschen pausenlos Autos vorbei, ein Straßenkehrfahrzeug brummt mit lautem Motor langsam über den Gehsteig. „Ganz schön laut hier!“, ruft Andreas Frücht, der sich vor dem leichten Regen an diesem grauen Apriltag unter ein Vordach gerettet hat. Die Märkische Straße ist eine der wichtigsten Zubringerstraßen ins Dortmunder Stadtzentrum – und ein Lärm-Hotspot der Stadt. Das weiß niemand besser als Frücht, der im städtischen Umweltamt für das Thema Lärm zuständig ist. „Wir wollen die Einrichtung von Tempo 30 erwirken“, erzählt er. In der kreuzenden Saarlandstraße ist das schon seit 2023 der Fall, und trotz einer ebenfalls hohen Fahrzeugbelastung ist es hier deutlich leiser. „Tempo 30 im Vergleich zu Tempo 50 bedeutet bei derselben Verkehrsmenge eine Halbierung des Lärms. Darum ist es eine der wichtigsten Maßnahmen in unserem Lärmaktionsplan, mit dem wir die Bürgerinnen und Bürger vor übermäßigem Lärm schützen wollen“, erklärt Frücht.
Lärmschutz ist Gesundheitsschutz
In Deutschland fühlen sich laut Umweltbundesamt rund drei Viertel aller Menschen an ihrem Wohnort von Straßenlärm belästigt. 16 Millionen Menschen sind sogar von krankmachendem Lärm betroffen, was ernsthafte gesundheitliche Folgen haben kann (siehe Infokasten). „Lärm als Dauerzustand ist Alltag in unseren Städten, mit entsprechenden Schäden für Betroffene und das Gesundheitssystem“, beschreibt Michael Müller-Görnert, verkehrspolitischer Sprecher des VCD, das Problem. Um dagegen vorzugehen, schreibt die Europäische Union ihren Mitgliedern vor, dass entlang aller Hauptverkehrswege – Straße, Schiene und Großflughäfen – alle fünf Jahre Lärmkartierungen vorgenommen werden müssen. Diese Lärmkarten zeigen genau, wie hoch die Lärmbelastung für Anwohner*innen ist. Die Kommunen müssen auf dieser Grundlage dann Lärmaktionspläne erstellen, mit Maßnahmen wie Tempo 30, die den Lärm verringern sollen. So wie in Dortmund.
Lärm macht krank
Lärm stört die Konzentration und den Schlaf und beeinträchtigt dadurch das Leistungsvermögen. Außerdem beeinflusst Lärm das hormonelle und das Nervensystem. Das wiederum kann zu Langzeitfolgen wie Herz-Kreislauf-Krankheiten und Bluthochdruck führen. Weil durch Lärm auch mehr Stresshormone ausgeschüttet werden, steigt zudem das Risiko, an Diabetes Typ 2 zu erkranken.
Unter anderem um die Umsetzung von Lärmaktionsplänen in Deutschland zu beschleunigen, hat der VCD gemeinsam mit der Deutschen Umwelthilfe (DUH) das Projekt „Ruhe bitte!“ ins Leben gerufen. Es wird vom Bundesumweltministerium und dem Umweltbundesamt gefördert. Die Kommunen haben noch bis zum 18. Juli 2024 Zeit, ihre Lärmaktionspläne auf Basis der 2022 neu erhobenen Daten zu überarbeiten. Ein Rechtsgutachten, das die DUH im Vorfeld des Projekts bei der Kanzlei Geulen und Klinger in Auftrag gegeben hat, zeigt, dass Kommunen viel mehr Spielraum bei der Umsetzung haben, als allgemein angenommen wird. „Damit die Pläne nicht bloß Papiertiger bleiben, heißt es jetzt, Druck auszuüben“, erklärt Michael Müller-Görnert, der das Projekt beim VCD leitet. Dafür haben der VCD und die DUH ein Online-Tool entwickelt, über das Bürger*innen in wenigen Minuten direkt einen Antrag an ihre Kommunen stellen und sie auf Lärmprobleme aufmerksam machen können.
In Dortmund ist Andreas Frücht aus der Märkischen Straße in die Landgrafenstraße und von dort ins Stadewäldchen abgebogen. Obwohl es nur wenige Meter von der viel befahrenen Hauptstraße entfernt liegt, ist es hier sehr ruhig, mehrstöckige Wohngebäude schirmen es vom Straßenlärm ab. „Bei der Lärmkartierung geht es auch darum, ruhige Orte im Stadtgebiet zu identifizieren, an die sich vom Lärm betroffene Anwohnerinnen und Anwohner zurückziehen können“, erklärt Frücht. „Im Lärmaktionsplan legen wir dann auch Maßnahmen fest, um diese ruhigen Gebiete zu schützen.“ Dabei müsse man bedenken, dass Lärm nicht gleich Lärm ist. In einem anderen ruhigen Gebiet, dem Westfalenpark, gibt es eine Fontäne. „Bei einem Hörspaziergang haben wir die Teilnehmer nach ihren Eindrücken gefragt und sie empfanden die Fontäne nicht als störenden Lärm. Dabei ist sie, was die Dezibel-Zahl angeht, genau so laut wie die Bundesstraße 1, die man einige Hundert Meter weiter hört. Diese wird aber als laut und störend wahrgenommen“, erzählt Frücht.
Durchschnittswerte von 70 Dezibel am Tag und 60 Dezibel in der Nacht gelten in Deutschland als Richtwerte, ab wann Kommunen gegen Lärm aktiv werden müssen – Werte, die schon seit vielen Jahren nicht mehr dem aktuellen Forschungsstand zu den Auswirkungen von Lärm entsprechen. Die Bundes-Immissionsschutzverordnung sieht zum Beispiel Werte von 59 Dezibel tags und 49 Dezibel nachts im Wohngebiet vor. Der Unterschied ist nicht trivial: Weil die Dezibel-Skala nicht linear, sondern logarithmisch verläuft, bedeuten zwei bis drei Dezibel weniger eine Halbierung des Schallpegels.
Neben dem Einbau von schallminderndem Asphalt und der Anordnung von Tempo 30 fördert die Stadt Dortmund auch den Einbau von Schallschutzfenstern. Albrecht Buscher aus dem Beirat zur Lärmminderung sieht das kritisch: „Das ist eigentlich eine große Einschränkung für die Menschen, denn das Schallschutzfenster hält zwar den Lärm ab, aber eben nur, solange das Fenster geschlossen ist.“
StVO: Tempo 30 gegen Lärm
Die Straßenverkehrsordnung (StVO) legt die Grundlage für die Anordnung von Tempo 30 aus Lärmschutzgründen. In Paragraf 45 heißt es, die Straßenverkehrsbehörden könnten die Benutzung bestimmter Straßen(abschnitte) zum Schutz der Wohnbevölkerung vor Lärm beschränken. Die Umsetzung liegt allerdings im Ermessen der zuständigen Behörde. Dabei muss sie sich an die Lärmschutz-Richtlinien-StV aus dem Jahr 2007 halten. Diese bedarf allerdings dringend einer Überarbeitung: wegen unklarer Formulierungen, veralteter Richtwerte und einer Berechnungsvorschrift aus den 1990ern, die nirgendwo sonst mehr zum Einsatz kommt, auch nicht bei der Lärmkartierung.
Ein positives Beispiel ist die 20 000-Einwohner-Stadt Eislingen/Fils in Baden-Württemberg: Hier hat die Stadtverwaltung flächendeckend Tempo 30 aus Lärmschutzgründen umgesetzt.
Entlastung dank Bus und Bahn
Auch die Förderung von Bus und Bahn gehört zum Schallschutz. „Klar ist ein einzelner Bus oder eine Straßenbahn laut. Aber in Summe sind sie leiser, als wenn all die Menschen, die darin sitzen, stattdessen mit dem Auto fahren würden. In Dortmund konnten wir außerdem durch den Bau der U-Bahn einen Teil des Lärms unter die Erde verlagern“, erzählt Andreas Frücht. „In Absprache mit den Stadtwerken Dortmund, die auch im Lärmbeirat sitzen, prüfen wir jetzt, ob zum Beispiel die neuen Elektrobusse vorwiegend nachts zum Einsatz kommen können.“
Einen Zwiespalt zwischen ÖPNV und Lärmschutz gibt es bei der Anordnung von Tempo 30. „Auf manchen Strecken würde Tempo 30 die Fahrzeit der Busse verlängern. Das fließt in die Planung mit ein und ist eines der wenigen Argumente, die die Einrichtung von Tempo 30 verhindern können“, erklärt Albrecht Buscher. Doch für ihn ist klar: „Beim Lärmschutz geht es um ein Grundrecht, nämlich den Schutz der körperlichen Unversehrtheit. Das muss an erster Stelle stehen!“ Mit der Bilanz der Stadt Dortmund ist Buscher insgesamt trotzdem zufrieden. „In den letzten Jahren wurde wirklich auf vielen Strecken Tempo 30 eingerichtet. Und dadurch, dass die Fraktionen aller Parteien mit im Lärmbeirat sitzen, wird das Thema teilweise auch politisch besser wahrgenommen. Natürlich geht immer noch mehr, aber wir sind auf einem guten Weg.“
Autorin
Katharina Baum schreibt als Redakteurin über nachhaltige Mobilität und begleitet verschiedenste Projekte, von Internetauftritten über Kommunikationskampagnen bis zu Nachhaltigkeitsberichten. Sie schreibt seit 2020 für das VCD-Magazin fairkehr und arbeitet bei der fairkehr Agentur in Bonn.