Sieben Uhr dreißig morgens. Die Bodelschwingh-Grundschule im Bonner Stadtteil Friesdorf liegt noch im Dunkeln. Nur aus einigen Klassenzimmern scheint schon Licht. In einer Ecke des Schulhofs löst Patrick Fick (42) ein Schloss, mit dem zwei Absperrgitter aus weißem Plastik an einen Zaun gekettet sind. Oben sind an den sogenannten Baken Warnlampen angebracht, an den Füßen Rollen. Der Vater einer Grundschülerin schiebt die Barrieren ratternd vom Schulhof und stellt sie im Abstand von gut 200 Metern an beiden Enden der Straße „Am Woltersweiher“ auf, in der die Schule liegt. Für die nächste halbe Stunde ist die Seitenstraße jetzt eine Schulstraße und gehört statt den Autos den Kindern.
Schon treffen die ersten ein. Manche auf Rollern, die meisten zu Fuß. Einige von Eltern begleitet, andere laufen allein. Die Straße bleibt sehr friedlich an diesem Wintermorgen. Entspannt bewegen sich die kleinen Körper mit den wolligen Mützen und bunten Schulranzen auf den Schulhof zu. Man hört Vogelstimmen. „Seit wir die Schulstraße haben, ist hier morgens deutlich weniger Lärm“, sagt Fick. Das gefalle auch den Menschen, die hier wohnten.
Konzentration statt Krach
Früher war mehr Krach: „Bis zu 20 Autos zeitgleich haben sich in Dreier- oder Viererreihen vor dem Haupteingang gedrängelt“, so die Schulleiterin Birgit Borcherding gegenüber dem WDR. Die Fahrzeuge lärmten nicht nur, sondern gefährdeten auch die Kinder. „In den Bring- und Abholzeiten gab es hier oft brenzlige Situationen.“ Auch, weil Autos auf dem Gehweg parkten. Jetzt ist die Straße übersichtlich und sicher. Gut für die Schüler*innen: Der morgendliche Weg zu Fuß oder mit dem Roller fördere Selbstständigkeit und Konzentration, so die Pädagogin. Die Eltern hat sie auf ihrer Seite: Bundesweit sind 62 Prozent der Meinung, dass sich in unmittelbarer Nähe zum Schulgebäude zu viele Autos tummeln.
Nie mehr als drei Autos
Paula (8) geht in die dritte Klasse. Sie findet es gut, dass ihr Vater Patrick die Straße für die Kinder freigibt: „Jetzt fühle ich mich sicherer. Wenn ich über die Straße gehe, muss ich nur noch auf Fahrräder schauen. Nicht mehr auf Autos.“ Paula ist kein Einzelfall: Jedes dritte Kind in Nordrhein-Westfalen fühlt sich auf dem Schulweg unsicher. Das ergab eine Forsa-Umfrage, die der VCD gemeinsam mit dem Deutschen Kinderhilfswerk in Auftrag gegeben hat.
Schulstraßen lösen das Problem. In Friesdorf sind es 15 Eltern, die im Turnus die Straße sperren. Sie hatten sich früher schon als Schullotsen engagiert. Anwohner*innen mit Auto lassen sie durch, im Schritttempo: „Die Stadt hat die Anlieger vor Einrichtung der Schulstraße informiert und ihnen entsprechende Ausweise ausgestellt“, erzählt Fick. An der Straße vor der Bodelschwingh-Schule stehen mehrere Wohnblöcke mit zirka zwanzig Garagen. Trotzdem muss der Familienvater nach eigener Aussage nie mehr als drei Autos durchlassen. Man kennt sich inzwischen, der Umgang ist entspannt.
Mit der temporären Verkehrsberuhigung, dem sogenannten Wiener Modell, hat man in den letzten Jahren in Österreich gute Erfahrungen gemacht. London hat gut 600 Schulstraßen eingerichtet, Barcelona und Paris je über 200 – viele davon sogar dauerhaft und begrünt. In Bonn-Friesdorf würde die Schule die Straße auch zu den Abholzeiten gern sperren. „Wir können das leider nicht leisten, weil die Eltern ihre Kinder zu unterschiedlichen Zeiten aus der Nachmittagsbetreuung abholen“, so Fick. Für Berufstätige sei das nicht möglich. Am Nachmittag herrscht deshalb das gleiche Chaos wie zuvor.
Bürokratie und Bedenken
Während Städte im Ausland das Modell Schulstraße erfolgreich anwenden, tut sich Deutschland schwer. Bisher gibt es landesweit etwa 20 Schulstraßen, eingerichtet im Rahmen von Verkehrsversuchen. In Bonn war die Stadt mit der Idee an die Schulen herangetreten, die Schulleitung brachte den Vorschlag daraufhin in die Schulpflegschaft ein. Eine aktive Elterngruppe fand das Konzept gut und setzt es nun um.
Wie so oft in Deutschland entpuppten sich Bürokratie und Bedenkenträgerei als die größten Hürden. Anders als in Österreich sind Schulstraßen nicht in der StVO verankert. Zwar hat Nordrhein-Westfalen als bisher einziges Bundesland die rechtssichere Anordnung von Schulstraßen per Erlass ermöglicht; doch so manche Behörde blieb zunächst skeptisch: „Die Verkehrspolizei fand das Konzept irritierend und hat nicht geglaubt, dass das funktioniert“, berichtet Fick. Um die Absperrgitter besser transportieren zu können, baten die Eltern darum, an ihnen Rollen zu montieren. Das ist laut Vorschrift jedoch nicht vorgesehen. Teile der Verwaltung sorgten sich vor Protesten der Anwohner*innen. Verkehrsschilder bis zum Beginn des Schuljahrs zu installieren, war nicht möglich.
Nach einem halben Jahr haben sich die Bedenken in Luft aufgelöst: Eltern, die auf das Auto nicht verzichten können, setzen ihre Sprösslinge an Bringzonen in der Nähe der Schule ab. Sie sind so eingerichtet, dass man kurz halten kann und nicht wenden muss. Das Zusammenspiel mit der Nachbarschaft funktioniert reibungslos. Die Baken haben nach kurzem Hin und Her Rollen bekommen. Das Tiefbauamt hat Behelfsschilder aufgestellt, die Eltern drehen sie morgens einfach in die richtige Richtung. Und die Polizei? „Die kommen regelmäßig vorbei und sind jedes Mal ganz überrascht, wie toll das funktioniert“, erzählt Fick.
Inzwischen sind alle Kinder im Schulgebäude verschwunden. Die Straße ist wieder leer, es ist hell geworden. Während Fick die Sperrgitter zurück auf den Schulhof rollt, zieht er Bilanz: „Mir scheint, jetzt kommen mehr Kinder selbstständig zur Schule.“ Die Schulstraße ist aus seiner Sicht ein voller Erfolg. Obwohl sie, wie er sagt, „nur ein Notpflaster“ sei. Besser fände er, wenn das ganze Viertel verkehrsberuhigt wäre. Dann müssten Eltern wie er hier morgens keine Extraschichten leisten.

Das sagt die Expertin
„Während andere europäische Länder Schulstaßen massenhaft umsetzen, hinkt Deutschland hinterher. Dabei muss es oberste Priorität haben, die Verletzlichsten im Verkehr zu schützen: Kinder. Das Verkehrschaos vor Schulen ist ein Risikofaktor, und deshalb brauchen Kommunen mehr Spielraum, den Verkehr sicherer zu machen. Deshab fordern wir: In Zukunft müssen Schulstraßen wie in Österreich fest in der StVO verankert werden!
Aber wir als VCD wollten nicht auf die Politik warten: Gemeinsam mit dem Kidical Mass Aktionsbündnis und dem Deutschen Kinderhilfswerk haben wir ein Rechtsgutachten und eine Anleitung zu Schulstraßen herausgegeben. Aufgrund des Gutachtens haben einige Bundesländer jetzt erlaubt, Schulstraßen testweise einzurichten. Das ist ein erster richtiger Schritt und ein voller Erfolg – für die Kinder!“
Schulstraßen: die Anleitung
Sie wollen sich auch für Schulstraßen in Ihrer Kommune einsetzen? Die Anleitung des VCD erklärt Schritt für Schritt, wie es geht!
Autor

Tim Albrecht ist Chefredakteur des VCD-Magazins fairkehr. Er arbeitet bei der fairkehr Agentur in Bonn als Berater und Coach für Kommunikation rund um die Themen Nachhaltige Mobilität & Urban Transformation.