In der Politik wird leider viel zu häufig polarisiert, also ein Gegensatz aufgestellt, der so gar nicht existiert. Da heißt es, dass wir jetzt entweder eine soziale Entlastung oder den ökologischen Wandel finanzieren können. Oder sogar keins von beidem, weil wir Steuern senken müssen, um die Innovationskraft der Wirtschaft und Arbeitsplätze zu erhalten. Oft wird Klimaschutz, werden jegliche ökologischen Maßnahmen mit Verzicht gleichgesetzt – nur etwas für Gutmenschen, das der Freiheit der Einzelnen entgegensteht.
Dieser Text belegt: Wenn wir gemeinsam und solidarisch die Verkehrswende gestalten, können wir:
- die Klimaschutzziele einhalten
- mehr Mobilitätsgerechtigkeit erreichen
- alle mehr Freiheit und Lebensqualität gewinnen
Das Freiheitsversprechen des Autos
Fangen wir mit der Freiheit an: Der Slogan „freie Fahrt für freie Bürger“ war lange das Versprechen für das Autoland Deutschland, für Straßenbau und die „autogerechte Stadt“. Mittlerweile ist klar: Ohne Einschränkungen ersticken die Städte am Autoverkehr. Die Kehrseite der Flexibilität, die das Auto bietet, sind Staus und lange Parkplatzsuche. Auf der gesellschaftlichen Ebene sind es Lärm, Schadstoffe sowie Unfälle mit Toten und Schwerverletzten.
Doch die Autowerbung vermittelt immer noch das Bild grenzenloser Freiheit – die Kollateralschäden des Autoverkehrs werden hingegen weitgehend ausgeblendet. Es geht hier nicht darum, das Auto zu verteufeln. Aber einige Tatsachen müssen zur Kenntnis genommen werden, wenn wir die Mobilität von Morgen gestalten wollen.
Zur Klimawirkung des Verkehrs liest man häufig diese Zahlen: Rund 20 Prozent der Treibhausgasemissionen in Deutschland gehen auf das Konto des Verkehrs. Das waren 2021 rund 148,1 Mio. Tonnen CO2-Äquivalente (CO2-Äq.). Nach dem Klimaschutzgesetz hätten es eigentlich nur 145 Mio. Tonnen sein dürfen. Rund zwei Drittel dieser Verkehrsemissionen werden von Pkws ausgestoßen.
Pkw sind zwar sparsamer geworden, doch größere und leistungsstärkere Autos sowie eine Zunahme des Fahrzeugbestands und damit verbundene höhere Fahrleistungen machen diesen Fortschritt zunichte. Und es sind nicht nur die direkten CO2-Emissionen aus dem Auspuff. Weitere Emissionen im Zusammenhang mit Verkehr entstehen z.B. bei der Produktion und Entsorgung von Fahrzeugen, der Energiebereitstellung und beim Infrastrukturbau. Diese werden aber anderen Sektoren zugeordnet. Tatsächlich sind die Emissionen des (Pkw-)Verkehrs deutlich größer. Positiv ausgedrückt: Durch die Verkehrswende ließen sich deutlich mehr Emissionen einsparen, als wenn nur der Auspuff betrachtet wird.
Die reale Klimabilanz des Autos
Das Projekt Calcolution nimmt als Beispiel einen VW Sharan, Baujahr 2016 mit einer Fahrleistung von 8.000 km. Hier werden als erstes die Herstellerangabe durch den Realverbrauch korrigiert: Aus 157 g/km werden damit 200 g/km. Hinzu kommen Emissionen bei der Herstellung des Pkw (75 g/km), bei der Treibstoff-Bereitstellung (von Öl-Förderung bis Tankstelle; 60 g/km), bei Vertrieb und Wartung des Pkw (vom Hersteller bis Autohaus, Werkstatt, Ersatzteile; 20 g/km), beim Straßennetz (Bau und Instandhaltung; 20 g/km) und weiteres. Insgesamt kommt Calcolution so auf rund 408 g/km.
Ein Elektroauto ist zwar selbst emissionsfrei, die anderen Faktoren gibt es aber auch hier. Bei der Strombereitstellung hängt es natürlich davon ab, wie schnell wir die Energiewende schaffen und ob für den Strombedarf des Verkehrs evtl. sogar Kohlekraftwerke länger laufen müssen. Selbst bei 100 Prozent erneuerbarem Strom kommt man aber auf 70-90 g/km (eigener Überschlag mit Zahlen von Calcolution und UBA).
Was haben diese Emissionen mit Freiheit zu tun? Jede Tonne CO2, die wir emittieren, schränkt die Handlungsmöglichkeiten zukünftiger Generationen ein. Um das 2- oder sogar 1,5-Grad-Ziel zu erreichen, müssen zukünftige Einsparmaßnahmen umso einschneidender sein, je später wir damit beginnen. Und je wärmer der Planet wird, desto drastischer werden Katastrophen wie Dürren, Überflutungen, Stürme und der Meeresspiegelanstieg sein. Wie viel Freiheit und Lebensqualität werden wir dann noch haben? Für wie viele Menschen wird es auf diesem Planeten dann immer öfter ums nackte Überleben gehen?
Freiheit heißt nicht nur, dass ich machen kann, was ich will – z.B. Autofahren. Sondern auch, dass ich frei von gesundheitsgefährdendem Lärm und Abgasen leben kann. Dass ich frei von Angst und Sorgen meine Kinder auf der Straße spielen oder mit dem Fahrrad zur Schule fahren lassen kann. Und es ist die Freiheit, mit anderen die Flächen, die heute zugeparkt sind, umzugestalten und anders nutzen zu können.
Gerechtigkeit: Fehlanzeige!
Diese Freiheiten sind sehr unterschiedlich verteilt. Die einen können sich ein Einfamilienhaus im Grünen leisten. Sie wohnen ruhig und pendeln täglich zur Arbeit – drei Pkw pro Haushalt sind keine Seltenheit mehr. Die anderen können sich gerade noch die Mietwohnung an der Hauptstraße leisten. Sie sind lärm- und abgasgeplagt und müssen schauen, ob sie sich das ÖPNV-Ticket zur Arbeit und am Wochenende ins Grüne leisten können. Die monatlichen Kosten von 200 bis 600 Euro für ein Auto übersteigen bei weitem ihre finanziellen Möglichkeiten.
Die damit verbundene Ungleichheit beim Energieverbrauch ist riesig: Nach einer aktuellen Studie verbrauchen die reichsten zehn Prozent der deutschen Bevölkerung so viel an Energie wie die untersten 40 Prozent, nämlich 23 Prozent. 41 Prozent an Gas, Strom und Öl ließe sich einsparen, wenn sich alle so verhalten würden, wie die untere Hälfte der Einkommensskala.
Beim Mobilitätsverhalten ist die Ungleichheit besonders groß: Das reichste Prozent der Bevölkerung verbraucht dabei mehr als die vierfache Energiemenge als der Durchschnitt! Diese Menschen sind besonders viel mit Auto und Flugzeug unterwegs.1
Die ungleiche Verteilung von Kosten und Nutzen des Auto- und Flugverkehrs gibt es auch auf globaler Ebene. Bei den Folgen des Klimawandels ist es offensichtlich. Aber auch bei der Rohstoffgewinnung für die Autoproduktion, bei der Autoentsorgung sowie der gesamten Ölindustrie sind Ausbeutung von Mensch und Natur leider immer noch weit verbreitet.
Mobilitätsarmut
„Auf dem Land braucht man ein Auto, um mobil zu sein“. Angesichts fehlender Alternativen ist das leider heute oft richtig. Es ist das Resultat einer autofixierten Verkehrs- und Strukturpolitik. Vielen Dörfern fehlen heute die essentiellen Angebote zum Einkaufen, für Gesundheit und Soziales. Und Buslinien wurden ausgedünnt, abgeschafft oder waren nie vorhanden. In diesem Sinne fängt „das Land“ sogar häufig schon in den städtischen Randgebieten an.
Bei dieser Abhängigkeit vom Auto sind diejenigen stark eingeschränkt oder ganz abgehängt, die sich kein Auto leisten können oder aufgrund ihres Alters oder von körperlichen Einschränkungen nicht fahren können. Kinder und Jugendliche sind auf ihre Eltern angewiesen, um z.B. zum Sport zu kommen. Ältere Menschen brauchen den Fahrdienst ihrer Familie für den Arztbesuch. Immer wieder kommt es vor, dass blinde Personen umziehen müssen, weil die Buslinie eingestellt wurde. Ohne eine Busverbindung können auch viele Menschen im Rollstuhl ihren Alltag nicht bewältigen, wie die Situation von Joachim Marx zeigt.
Es gibt vielfältige Formen von Mobilitätsarmut. Häufig, aber nicht immer, liegt ihre Ursache beim geringen Einkommen. Wer auf dem Land ökologisch mobil sein will, muss oft viel in Kauf nehmen. Manchmal geht es einfach nicht, wie die Situation von Yvonne Schulze zeigt.
An dieser Stelle sei auch klar gesagt: Für manche Menschen und bestimmte Mobilitätszwecke ist das Auto praktisch alternativlos. In einigen Fällen wird das auch so bleiben. Hier ist eine gezielte Förderung von E-Autos sinnvoll. In einer Welt mit Mobilitätsgerechtigkeit hat auch das Auto seinen Platz. Die derzeit immer noch starke Autofixierung der Verkehrspolitik ist hingegen kontraproduktiv. Jetzt müssen wir uns dem Ziel verschreiben, immer mehr Menschen einfache, sichere und bezahlbare Alternativen zum Auto zu bieten. Perspektivisch für (fast) alle.
Ressourceneinsatz – immer noch am Weiter-so orientiert
Derzeit laufen die Beratungen für den Bundeshaushalt 2023. Eine deutliche Umverteilung vom Straßenbau und umweltschädlichen Subventionen hin zu Investitionen in Bus und Bahn, Fahrrad und Fußverkehr ist nicht absehbar. Geld genug ist im Verkehrsetat vorhanden, um die Verkehrswende richtig in Fahrt zu bringen.
Aber es geht nicht nur ums Geld. Zentral ist ebenfalls die Frage, wie wir die Flächen nutzen wollen. In den Städten geht es um Flächengerechtigkeit zwischen den Verkehrsträgern, um andere Nutzungsarten, die mehr Lebensqualität mit sich bringen würden, als fahrende oder parkende Autos. Auf dem Land ist die Frage, wie viel Fläche wir noch zusätzlich für den Autoverkehr versiegeln wollen. Intakte Wälder und Moore sowie landwirtschaftliche Flächen werden angesichts des Klimawandels immer wichtiger. Straßen werden für die nächsten 50-100 Jahre geplant und gebaut und ziehen Unterhaltskosten nach sich. Brauchen wir diese Straßen aber in 15-30 Jahren noch? Sollten wir bezüglich der Verkehrswende nicht optimistischer sein?
Mit dem Straßenbau ist auch der Einsatz von Ressourcen wie Bausand und Zement verbunden. Längst eine knappe Ressource bzw. nur mit großem Energieaufwand herzustellen. Aktuell wird darüber diskutiert, wie man die Engpässe beim (sozialen) Wohnungsbau überwinden kann. Ist da ein Moratorium für den Bau und Ausbau mindestens von Autobahnen nicht überfällig?
Statt für Planung und Bau von Autobahn brauchen wir Planungskapazitäten, Unternehmen und ihre Mitarbeiter*innen für den Bau von Sozialwohnungen, Bahnstrecken, Radwegen und vielen weiteren kleineren Baumaßnamen, um Städte und Dörfer lebenswert umzugestalten. Auch die Fahrzeug-Industrie braucht eine neue Ausrichtung: Statt Pkw-Überproduktion liegt die soziale und ökologische Perspektive in der Herstellung von Straßenbahnen, Bussen, flexiblen Kleinbussen für On-Demand-Verkehre, Lastenrädern und elektrischen Kleinfahrzeugen und Lieferwagen sowie Wärmepumpen. Zudem werden dringend viele Tausend Lokführer und Busfahrerinnen gebraucht.
Ohne Umschulung, attraktive Arbeitsbedingungen und gute Bezahlung in den Bereichen, wo Fachkräfte gebraucht werden, wird es nicht gehen. Gerade Umschulungen brauchen ihre Zeit. Gerade deswegen sollte sofort damit begonnen werden.
Mobilität im Denken
Für die Verkehrswende brauchen wir eine Umverteilung von Geld, Energie, Ressourcen und Arbeitsplätzen. Und wir müssen unsere Gewohnheiten ändern. Dies erfordert Mobilität im Denken. Trotz der Bequemlichkeit, die für viele mit dem Auto verbunden ist, dürfen wir die Nebenwirkungen nicht ausblenden. Verdrängung und Resignation bringen uns nicht weiter. Wir müssen offen für neue Lösungen sein und den Blick auf die Chancen richten, die mit der Verkehrswende verbunden sind, wenn wir sie gemeinsam gestalten.
Vor allem müssen wir die soziale Dimension mitdenken und im Blick haben: Wer profitiert am meisten vom jetzigen Verkehrssystem? Wer ist für den größten Energieverbrauch und die entsprechenden Emissionen und weiteren Schäden an Mensch und Natur verantwortlich? Und wer hat gar nichts von diesem Ressourcenverbrauch und ist von Mobilitätsarmut betroffen?
Wenn jetzt alle dazu aufgerufen werden, für Frieden und Klimaschutz Energie zu sparen, dann ist das grundsätzlich richtig. Alle müssen ihren Beitrag leisten. Dann kann es aber nicht heißen: Sparen beim Heizen und Duschen – während andere weiterhin mit ihrem SUV über die Autobahn rasen. Oder: Viele rechnen, ob und welches ÖPNV-Ticket sie sich leisten können – während andere mit ihrem Dienstwagen fahren, ohne sich um die Kosten kümmern zu müssen. Kopfzerbrechen beim Engpass bei Wohnungsbau und Gebäudesanierung – während weiterhin Autobahnen geplant und gebaut werden.
Für Solidarität und Gerechtigkeit müssen klare Grenzen gesetzt werden:
- Ein Tempolimit von 120 km/h auf Autobahnen und von 80 km/h auf Landstraßen würde jährlich 3 Mio. Tonnen CO2 und 1,2 Mrd. Liter Treibstoff einsparen (UBA). Beim Heizen wäre eine solche Einsparung nur mit großen Einsparungen von vielen Menschen verbunden – es entspricht rund einem Zehntel des Heizöls, das die privaten Haushalte 2020 in Deutschland verbrauchten.
- Deutschland hat genug Autobahnen! Schluss mit Neu- und Ausbau! Noch sind über 800 km neue Autobahnen in Planung. Diese würden eine Fläche versiegeln, auf der anderswo Wohnraum für über 100.000 Menschen geschaffen werden könnte.
- Reform der Dienstwagenbesteuerung: Der geldwerte Vorteil muss angemessen besteuert werden. Dazu muss der pauschale Steuersatz mindestens verdoppelt werden. Zuschläge braucht es bei hohen privaten Fahrleistungen und für Fahrzeuge mit hohem CO2-Ausstoß.
- Pendlerpauschale auf ein einkommensunabhängiges Mobilitätsgeld umstellen. Davon profitieren insbesondere Haushalte mit geringerem Einkommen.
- Innerhalb der nächsten Jahre müssen auch alle anderen umweltschädlichen Subventionen auslaufen. So z.B. die Steuerprivilegien für den Flugverkehr oder auf Dieselkraftstoff.
Die Umsetzung eines Tempolimits ist praktisch kostenneutral. Die weiteren Forderungen bringen zusätzliches Geld in die Kassen, um ein für alle bezahlbares bundesweites ÖPNV-Ticket zu finanzieren und zusätzlich den massiven Ausbau des ÖPNV im Rahmen einer Mobilitätsgarantie voran zu bringen! Dazu gehört auch der Ausbau der Fuß- und Radinfrastruktur und die Barrierefreiheit. Denn nur so sorgen wir heute dafür, dass wir morgen ein resilientes, ökologisches und sozial gerechtes Verkehrssystem haben.
Klare bundesweite Standards und eine ausreichende Finanzierung ermöglichen es dann, dass vor Ort und gemeinsam mit den Bürgerinnen und Bürgern die Verhältnisse so umgestaltet werden, dass sie den Bedürfnissen der Menschen entsprechen und sowohl sozial gerecht als auch ökologisch sind. Dafür gibt es bereits viele erprobte Ideen und noch mehr Raum für Experimente.
Sozial gerecht heißt, dass wir uns gemeinsam auf einen Weg machen, den es teilweise noch zu erkunden gilt. Für viele wird dies ein kleines Abenteuer, weil alte Gewohnheiten und Privilegien auf den Prüfstand müssen. Doch es lockt eine Zukunft mit deutlich mehr Lebensqualität und sozialem Zusammenhalt.
Solidarischer Herbst
Wir brauchen neue Visionen. Wir brauchen den Willen, gemeinsam die Zukunft lebenswert zu gestalten. Und wir brauchen den Druck von der Straße und ein klares Signal an die Politik.
Daher beteiligen wir uns an den Demos am Samstag, 22.10.: Unter dem Motto “Solidarisch durch die Krise – soziale Sicherheit schaffen und fossile Abhängigkeiten beenden” ruft ein breites Bündnis in sechs deutschen Städten ab 12 Uhr zu Demonstrationen auf. Wir werden Flagge zeigen für eine solidarische Verkehrswende, die heute Entlastung schafft für die, die es brauchen und gleichzeitig auf eine resiliente, soziale und ökologische Mobilität für alle hinarbeitet. Seien Sie dabei in Berlin, Dresden, Düsseldorf, Frankfurt a.M., Hannover oder Stuttgart!
Dominik Fette
Sprecher für klima- und sozialverträgliche Mobilität
Fon 030/28 03 51-281
dominik.fette@vcd.org